Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Meran, 14. Juni 1920] Montag
 

Heute früh kurz vor dem Aufwachen, es war auch kurz nach einem Einschlafen hatte ich einen abscheulichen um nicht zu sagen fürchterlichen (glücklicherweise verflüchtigt sich der Traumeindruck schnell) also nur einen abscheulichen Traum. Übrigens verdanke ich ihm auch ein wenig Schlaf, aus einem solchen Traum erwacht man erst, wenn er abgelaufen ist, früher sich herauswinden kann man nicht, er hält einen an der Zunge fest.

Es war in Wien, ähnlich wie ich es mir in Wachträumen für den Fall dass ich hinfahren sollte, vorstelle (in diesen Wachträumen besteht Wien nur aus einem kleinen stillen Platz, die eine Seite bildet Dein Haus, gegenüber ist das Hotel in dem ich wohnen werde, links davon steht der Westbahnhof, in dem ich ankomme, links der Franz Josefs Bahnhof, von dem ich wegfahre, ja und im Erdgeschoß meines Hauses ist freundlicher Weise noch eine vegetarische Speisestube, in der ich esse, nicht um zu essen, aber um eine Art Gewicht nach Prag mitzubringen. Warum erzähle ich das? Es gehört nicht eigentlich zum Traum, offenbar habe ich noch immer Angst vor ihm). Genau so war es also nicht, es war die wirkliche Großstadt, gegen Abend, naß, dunkel, ein unkenntlich großer Verkehr; das Haus, in dem ich wohnte, trennte eine lange viereckige öffentliche Gartenanlage von dem Deinen.

Ich war plötzlich nach Wien gekommen, hatte eigene Briefe überholt, die noch auf dem Weg zu Dir waren (das schmerzte mich später besonders). Immerhin warst Du verständigt und ich sollte Dich treffen. Glücklicherweise (ich hatte aber dabei gleichzeitig auch das Gefühl des Lästigen) war ich nicht allein, eine kleine Gesellschaft, auch ein Mädchen glaube ich, war bei mir, aber ich weiß gar nichts genaueres über sie, sie galten mir gewissermaßen als meine Sekundanten. Wären sie nur ruhig gewesen, sie redeten aber immerfort, wahrscheinlich über meine Angelegenheit, mit einander, ich hörte nur ihr nervös machendes Murmeln, verstand aber nichts und wollte auch nichts verstehn. Ich stand rechts von meinem Haus auf dem Trottoirrand und beobachtete Deines. Es war eine niedrige Villa mit einer schönen einfachen rundgewölbten steinernen Loggia vorn in der Höhe des Erdgeschosses.

Nun war es plötzlich Frühstückszeit, in der Loggia war der Tisch gedeckt, ich sah von der Ferne, wie Dein Mann kam, sich in einen Rohrstuhl rechts setzte, noch verschlafen war und mit ausgebreiteten Armen sich streckte. Dann kamst Du und setztest Dich hinter den Tisch, so dass man Dich voll sehen konnte. Genau allerdings nicht, es war so weit, die Umrisse Deines Mannes sah man viel bestimmter, ich weiß nicht warum, Du bliebst nur etwas Bläulich-Weißes, Fließendes, Geisterhaftes. Auch Du hattest die Arme ausgebreitet, aber nicht um Dich zu strecken, sondern es war eine feierliche Haltung.

Kurz darauf, nun war aber wieder der frühere Abend, warst Du auf der Gasse bei mir, Du standest auf dem Trottoir, ich mit einem Fuß in der Fahrbahn, ich hielt Deine Hand und nun begann ein unsinnig schnelles, kurzsätziges Gespräch, es gieng klapp klapp und dauerte bis zum Ende des Traums fast ununterbrochen.

Nacherzählen kann ich es nicht, ich weiß eigentlich nur die z ersten und die 2 letzten Sätze, das Mittelstück war eine einzige, näher nicht mitteilbare Qual.

Ich sagte statt einer Begrüßung, schnell, durch irgendetwas in Deinem Bericht dazu bestimmt: "Du hast mich Dir anders vorgestellt." Du antwortetest: "Wenn ich aufrichtig sein soll, ich dachte, Du wärest fescher" (eigentlich sagtest Du einen noch wienerischen Ausdruck, aber ich habe ihn vergessen).

Das waren die ersten 2 Sätze (in diesem Zusammenhang fällt mir ein: weißt Du eigentlich dass ich vollständig, in einer meiner Erfahrung nach überhaupt sonst nicht vorkommenden Vollständigkeit unmusikalisch bin?) nun war ja damit im Grunde alles entschieden, was denn noch? Aber nun begannen die Verhandlungen wegen eines Wiedersehns, auerunbestimmteste Ausdrücke auf Deiner Seite, unaufhörlich drängende Fragen auf meiner.

Jetzt griff meine Begleitung ein, man erzeugte die Meinung, dass ich nach Wien auch deshalb gekommen sei, um eine landwirtschaftliche Schule in der Nähe Wiens zu besuchen, jetzt schien es ja, als ob ich Zeit dazu haben sollte, offenbar wollte man mich aus Barmherzigkeit fortschaffen. Ich durchschaute es, gieng aber doch mit zur Bahn, wahrscheinlich weil ich hoffte, dass so ernsthafte Abfahrts-Absichten auf Dich Eindruck machen würden. Wir kamen alle auf den nahen Bahnhof, aber nun zeigte es sich, dass ich den Namen des Ortes vergessen hatte, wo die Schule sein sollte. Wir standen vor den großen Fahrplänen, immerfort lief man mit den Fingern die Stationsnamen ab und fragte mich, ob es vielleicht dieser oder jener sei, aber es war keiner von diesen.

Inzwischen konnte ich Dich ein wenig ansehn, übrigens war es mir äußerst gleichgiltig wie Du aussahst, es kam mir nur auf Dein Wort an. Du warst Dir ziemlich unähnlich, jedenfalls viel dunkler, mageres Gesicht, mit runden Wangen hätte man auch nicht so grausam sein können. (Aber war es denn grausam?) Dein Anzug war merkwürdiger Weise aus dem gleichen Stoff wie meiner, war auch sehr männlich und gefiel mir eigentlich gar nicht. Dann aber erinnerte ich mich an eine Briefstelle (den Vers: dvoje šaty mám a přece slušně vypadám) und so groß war die Macht Deines Wortes über mich, dass mir von da an das Kleid sehr gefiel.

Aber nun war das Ende da, meine Begleitung suchte noch die Fahrpläne ab, wir standen abseits und verhandelten. Der letzte Stand der Verhandlung war etwa der: nächsten Tag war Sonntag; es war Dir bis zur Widerlichkeit unbegreiflich, wie ich annehmen konnte, dass Du Sonntag für mich Zeit haben könntest. Schließlich aber gabst Du scheinbar nach und sagtest, dass Du 40 Minuten Dir doch absparen wolltest. (Das Schrecklichste des Gespräches waren natürlich nicht die Worte, sondern der Untergrund, die Zwecklosigkeit des Ganzen, es war auch Dein fortwährendes stillschweigendes Argument: "Ich will nicht kommen. Was kann es dir also helfen, wenn ich doch komme?") Wann Du aber diese 40 Minuten frei haben würdest konnte ich von Dir nicht erfahren. Du wußtest es nicht; trotz alles scheinbar angestrengten Nachdenkens konntest Du es nicht bestimmen. Schließlich fragte ich: "Soll ich vielleicht den ganzen Tag warten?" "Ja" sagtest Du und wandtest Dich zu einer bereitstehenden, Dich erwartenden Gesellschaft. Der Sinn der Antwort war, dass Du gar nicht kommen werdest und dass das einzige Zugeständnis das Du mir machen könntest, die Erlaubnis sei, warten zu dürfen. "Ich werde nicht warten" sagte ich leise und da ich glaubte, Du hättest es nicht gehört und es doch mein letzter Trumpf war, schrie ich es Dir verzweifelt nach. Aber Dir war es gleichgültig, Du kümmertest Dich nicht mehr darum. Ich wankte irgendwie in die Stadt zurück.


---------


Aber zwei Stunden später kamen Briefe und Blumen, Güte und Trost.

Dein F                   


Die Adressen Milena sind wieder undeutlich, von der Post überschrieben und ergänzt. Die Adresse nach der ersten Bitte war prachtvoll, eine Mustertabelle schöner, verschiedenartiger, allerdings auch nicht eigentlich lesbarer Schrifttypen. Hätte die Post meine Augen, sie könnte fast nur Deine Adressen lesen und keine sonst. Aber da es die Post ist -




1] dvoje šaty mám a přece slušně vypadám(ich habe nur zwei Kleider und sehe doch nett aus)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at