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An Milena Jesenská

[Meran, 12. Juni 1920]
noch einmal Samstag
 

Diese Kreuz- und Querbriefe müssen aufhören, Milena, die machen uns toll, man weiß nicht, was man geschrieben hat, nicht, worauf geantwortet wird und zittert immer, wie es auch sei. Dein Tschechisch verstehe ich sehr gut, höre auch das Lachen, aber ich wühle mich ja in Deine Briefe noch zwischen Wort und Lachen, dann höre ich nur das Wort und außerdem ist ja mein Wesen: Angst.

Ob Du nach meinen Mittwoch-Donnerstag Briefen mich noch sehen willst, kann ich nicht berechnen, meine Beziehung zu Dir kenne ich (Du gehörst zu mir, selbst wenn ich Dich nie mehr sehen würde). [. . .][ca.11 Wärter unleserlich gemacht] ich kenne sie, soweit sie nicht in das unübersichtliche Gebiet der Angst gehören, Deine Beziehung zu mir kenne ich aber gar nicht, sie gehört ganz der Angst an. Du kennst mich auch nicht, Milena, ich wiederhole das.

Für mich ist es ja etwas Ungeheuerliches was geschieht, meine Welt stürzt ein, meine Welt baut sich auf, sieh zu, wie Du (dieses Du bin ich) dabei bestehst. Um das Stürzen klage ich nicht, sie war im Stürzen, über ihr Sich-aufbauen klage ich, über meine schwachen Kräfte klage ich, über das Geboren-werden klage ich, über das Licht der Sonne klage ich.

Wie werden wir weiter leben? Wenn Du zu meinen Antwortbriefen "Ja" sagst, darfst Du in Wien nicht weiter leben, das ist unmöglich. Gleichzeitig mit Deinen heutigen Briefen kam ein Brief von Max Brod, in dem er unter anderem schreibt: "Eine merkwürdige Geschichte hat sich zugetragen, die ich Dir wenigstens andeutungsweise "referiere". Der junge Redakteur Reiner der Tribuna (wie man sagt, ein sehr feiner und wirklich übertrieben junger Mensch - vielleicht 20 Jahre) hat sich vergiftet. Das war, als Du noch in Prag warst - glaube ich. Jetzt erfährt man den Grund: Willy Haas hatte mit seiner Frau (einer geb. Ambrožová, Freundin der Milena Jensenská) ein Verhältnis, das aber in geistigen Grenzen sich bewegt haben soll. Es kam zu keinem Ertappen oder so etwas, sondern die Frau hat den Mann, den sie vor der Ehe Jahre lang kannte, so gequält mit Worten hauptsächlich und ihrem Benehmen dass er sich in der Redaktion tötete. Früh kam sie mit Herrn Haas in die Redaktion zu fragen warum er aus dem Nachtdienst nicht zurückgekommen ist. Er lag schon im Krankenhaus und starb ehe sie hinkamen. Haas der vor der letzten Prüfung stand, brach das Studium ab, überwarf sich mit dem Vater und leitet in Berlin eine Filmzeitung. Es soll ihm nicht gut gehn. Die Frau lebt auch in Berlin und man glaubt er würde sie heiraten. - Ich weiß nicht warum ich Dir diese grausame Geschichte erzähle. Vielleicht nur weil wir unter demselben Dämon leiden und so gehört die Geschichte uns, wie wir ihr gehören."

Soweit der Brief. Ich wiederhole, dass Du nicht in Wien bleiben kannst. Was für eine schreckliche Geschichte. Ich hatte einmal einen Maulwurf gefangen und trug ihn in den Hopfengarten. Als ich ihn abwarf, stürzte er sich wie ein Wütender in die Erde, wie, wenn er im Wasser tauche, verschwand er. So müßte man sich vor dieser Geschichte verstecken.

Milena, es handelt sich ja nicht darum, Du bist für mich keine Frau, bist ein Mädchen, wie ich kein Mädchenhafteres gesehen habe, ich werde Dir ja die Hand nicht zu reichen wagen, Mädchen, die schmutzige, zuckende, krallige, fahrige, unsichere, heiß-kalte Hand.

F                   


Was den Prager Dienstmann betrifft so ist das ein schlechter Plan. Du wirst nur ein leeres Haus finden. Es ist mein Bureau. Inzwischen werde ich Altstädter Ring Nr 6 im 3tten Stock am Schreibtisch sitzen das Gesicht in den Händen.

Ja Du verstehst mich doch auch nicht Milena, die "Judenfrage" war doch nur dummer Spaß.




1] Redakteur Reiner [Kafka übernimmt aus dem Brief Brods die irrtümliche Schreibung "Rainer" und behält sie auch in späteren Erwähnungen bei]: Josef Reiner (1898-1920), ein zweiundzwanzigjähriger Redakteur der "Tribuna", hatte sich am 29. Februar 1920 das Leben genommen. Der sensible Lyriker und begabte Übersetzer kam aus einer Prager jüdischen Familie; Christus, Dostojewski und Schopenhauer bedeuteten ihm aber mehr als sein Judentum. Er verehrte Kafka, kannte ihn jedoch nicht persönlich. Wahrscheinlich kannte er Milena, denn er war der Ehemann ihrer langjährigen Mitschülerin und Freundin Jarmila. Einen Nachruf auf den jungen Redakteur schrieb S. K. Neumann in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Červen", 2.Jg., Nr. 51 (26. Februar 1920). Willy Haas berichtet erstmals über diesen Vorfall in seinen Lebenserinnerungen "Die literarische Welt" (München: Paul List, 1957), S. 72-77.


2] Willy Haas: Der Kritiker und Essayist Willy Haas 1891-1973), der im Mittelpunkt eines Prager literarischen Kreises stand, zu dem auch Franz Werfel, Ernst Pollak und die Brüder Hans und Franz Janowitz zählten.


3] Altstädter Ring [Staroměstská náměstí] Nr. 6: Wohnung der Eltern, in der Franz Kafka ein Zimmer hatte.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at