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An Milena Jesenská

[Meran, 10. Juni 1920] Donnerstag
 

Ich will jetzt von nichts anderem sprechen als von diesem: [auch habe ich Ihre Briefe noch nicht genau gelesen, nur umflogen, wie die Mücke das Licht und mir das Köpfchen mehrere Male verbrannt, es sind übrigens wie ich schon herausgefunden habe, zwei ganz verschiedene Briefe, der eine um ihn auszutrinken, der andere zum Entsetzen, der letztere ist aber wohl der spätere]:

Wenn man einen Bekannten trifft und ihn gespannt fragt, wieviel 2x2 ist, so ist das eine irrenhäuslerische Frage, aber in der ersten Volksschulklasse ist sie sehr gut angebracht. Mit meiner Frage an Sie Milena ist es nun so, dass sich in ihr Beides vereinigt, das Irrenhäuslerische und das Volksschulhafte, glücklicherweise ist also auch ein wenig Volksschulhaftes dabei. Es war mir nämlich immer ganz unverständlich, wenn jemand sich in mir verfangen hat und ich habe manche menschlichen Verhältnisse (z. B. das mit Weiß) zerstört aus einer logischen, immer mehr an Irrtum des andern als an Wunder (soweit es mich betraf, sonst nicht) glaubenden Geistesanlage. Warum, dachte ich, das trübe Wasser des Lebens noch mit solchen Dingen trüben. Ich sehe ein Stück des für möglichen Weges vor mir und weiß in welcher ungeheueren, für mich wohl unerreichbaren Entfernung von meinem jetzigen Ort ich erst eines gelegentlichen Blickes (von mir, wie erst von andern!) wert sein werde, (das ist nicht Bescheidenheit, sondern Hochmut wenn Sie es durchdenken) erst eines gelegentlichen Blickes und nun bekam ich - Ihre Briefe, Milena. Wie soll ich den Unterschied ausdrücken? Einer liegt im Schmutz und Gestank seines Sterbebettes und es kommt der Todesengel, der seligste aller Engel, und blickt ihn an. Darf der Mann überhaupt zu sterben wagen? Er dreht sich um, vergräbt sich nun erst recht in sein Bett, es ist ihm unmöglich zu sterben. Kurz: ich glaube nicht an das, was Sie mir schreiben, Milena und es gibt keine Art auf die es mir bewiesen werden könnte (auch Dostojewski hätte es in jener Nacht niemand beweisen können und mein Leben dauert eine Nacht), nur von mir könnte es bewiesen werden, ich kann mir vorstellen, dass ich dazu imstande wäre (so wie Sie einmal die Vorstellung des Mannes auf dem Liegestuhl hatten) aber ich kann es auch mir nicht glauben. Ein lächerliches Aushilfsmittel war deshalb diese Frage - das haben Sie natürlich gleich erkannt - so wie der Lehrer manchmal aus Müdigkeit und Sehnsucht absichtlich durch eine richtige Antwort des Schülers sich darüber täuschen lassen will, dass dieser Schüler die Sache wirklich versteht, während er in Wirklichkeit sie doch nur aus irgendwelchen unwesentlichen Ursachen kennt, aber unmöglich von Grund aus verstehen kann, denn ihn das so verstehen lehren, könnte nur der Lehrer selbst. Aber nicht durch Wimmern, Klagen, Streicheln, Bitten, Träumen (haben Sie die letzten 5, 6 Briefe? ansehn sollten Sie sie, sie gehören zum Ganzen) sondern durch nicht anderes als - Lassen wir das offen.


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Ich sehe flüchtig, dass Sie in Ihrem Brief auch das Mädchen erwähnen. Um hier keinen Zweifel zu lassen: Sie haben diesem Mädchen über den augenblicklichen Schmerz hinweg die größte Wohltat erwiesen. Ich kann mir außer dieser keine andere Art denken, wie sie von mir Iosgekommen wäre. Dabei hatte sie zwar eine gewisse schmerzende Ahnung, aber nicht den geringsten Blick dafür, woher eigentlich das Plätzchen neben mir seine (unheimliche, ihr nicht unheimliche) Wärme nahm. Ich erinnere mich: wir saßen neben einander auf dem Kanapee einer einzimmrigen Wohnung in Wrschowitz (es war wohl im November, die Wohnung sollte in einer Woche unsere Wohnung sein), sie war glücklich nach vieler Mühe wenigstens diese Wohnung erobert zu haben, neben ihr saß ihr künftiger Mann (ich wiederhole: ausschließlich ich hatte den Heiratseinfall gehabt, ausschließlich ich hatte zur Heirat getrieben, sie hatte sich nur erschrocken und widerwillig gefügt, dann aber hatte sie sich natürlich in den Gedanken eingelebt). Wenn ich an diese Szene denke mit ihren Einzelnheiten, zahlreicher als Fieber-Herzschläge, dann glaube ich jede menschliche Verblendung (in diesem Fall war es monatelang auch meine, allerdings war es bei mir nicht nur Verblendung, sondern auch andere Rücksicht, es wäre auch daraus eine Verstandesheirat im besten Sinn geworden), jede Verblendung bis auf den Grund verstehen zu können und ich fürchte mich das Milchglas zum Mund zu heben, weil es doch, nicht aus Zufall, aus Absicht recht gut vor meinem Gesicht zerspringen und mir die Splitter ins Gesicht jagen könnte.

Eine Frage: Worin bestehen die Vorwürfe, die Ihnen gemacht werden? Ja, ich habe auch schon Menschen unglücklich gemacht, aber Vorwürfe machen sie mir auf die Dauer gewiß nicht, sie werden nur stumm und ich glaube, dass sie mir auch innerlich keine Vorwürfe machen. Diese Ausnahmsstellung habe ich unter den Menschen.


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Aber das alles ist unwichtig gegenüber einem Einfall, den ich heute früh beim Aus-dem-Bett-aufstehn hatte und der mich so bezauberte, dass ich gewaschen und angezogen war, ohne zu wissen wie und dass ich auf die gleiche Art mich auch noch rasiert hätte, wenn mich nicht ein Besuch (der Advokat, welcher die Fleischnahrung für notwendig hält) geweckt hätte.

Es ist kurz folgendes: Sie gehen für eine Zeit von Ihrem Manne fort, das ist nichts neues, es ist ja schon einmal so gewesen. Die Gründe sind: Ihre Krankheit, seine Nervosität (Sie schaffen auch ihm Erleichterung) und endlich die Wiener Verhältnisse. Wohin Sie gehen wollen, weiß ich nicht, am besten dürfte für Sie irgendeine friedliche Gegend in Böhmen sein. Es wird auch dabei das beste sein, wenn ich mich persönlich weder einmische noch zeige. Das dafür nötige Geld nehmen Sie vorläufig (über die Rückzahlungsbedingungen einigen wir uns) von mir. (Ich erwähne nur einen Nebenvorteil den ich davon hätte: ich würde ein entzückt arbeitender Beamter werden - mein Dienst ist übrigens lächerlich und kläglich leicht, Sie können sich das gar nicht vorstellen, ich weiß nicht wofür ich das Geld bekomme.) Sollte es monatlich hie und da nicht ganz hinreichen, werden Sie sich den gewiß nicht großen Rest leicht verschaffen.

Ich sage vorläufig nichts mehr zum Lobe des Einfalls, aber Sie haben Gelegenheit durch das Urteil über ihn mir zu zeigen, ob ich Ihrem Urteil über meine sonstigen Einfälle trauen darf (denn den Wert dieses Einfalls kenne ich). Ihr Kafka

Ihr Kafka          


Ich lese nachträglich eine Bemerkung wegen des Essens, ja, das würde sich dann bei mir gewiß auch einrichten, bei einem so wichtigen Mann, der ich dann geworden wäre. - Ich lese die zwei Briefe so wie der Spatz die Krumen in meinem Zimmer aufklaubt, zitternd, horchend, spähend, alle Federn aufgebauscht.




1] (z. B. das mit Weiß): Die Schuld am Zerbrechen seiner Beziehung zu dem Erzähler Ernst Weiß (1882-1940), mit dem er seit 1913 befreundet war, schrieb Kafka sich selbst zu. Vgl. "Briefe an Felice", S. 652.


2] Dostojewski: Vgl. Brief vom [April/Mai 1920], Anm. 1.


3] das Mädchen: Vgl. Brief vom [31. Mai 1920], Anm. 3.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at