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An Milena Jesenská

[Meran, 3. Juni 1920]
 

Es ist nicht ganz leicht, jetzt nachdem ich diesen schrecklichen aber durchaus nicht bis in seine Tiefe schrecklichen Brief gelesen habe, für die Freude zu danken, die er mir bei der Ankunft gemacht hat. Es ist Feiertag, gewöhnliche Post wäre nicht mehr gekommen, ob morgen Freitag etwas von Ihnen käme, war auch zweifelhaft, es war also eine Art bedrückter Stille, doch gar nicht traurig, soweit es Sie betraf; in Ihrem letzten Briefe waren Sie ja so stark, dass ich Ihnen zugesehen habe, so wie ich von meinem Liegestuhl aus Bergsteigern zusehen würde, wenn ich sie oben im Schnee von hier aus erkennen könnte. Und nun kam er doch knapp vor dem Mittagessen, ich konnte ihn mitnehmen, aus der Tasche ziehn, auf den Tisch legen, wieder in die Tasche stecken, wie eben so die Hände mit einem Brief spielen wollen, man sieht ihnen zu und freut sich über die Kinder. Den General und den Ingenieur mir gegenüber (ausgezeichnete, freundliche Menschen) erkannte ich nicht immer, hörte sie noch seltener, das Essen mit dem ich heute wieder einmal anfieng (gestern aß ich nichts) störte mich auch nicht sehr, von den Rechenkunststücken, die nach dem Essen verhandelt wurden, waren mir die kurzen Probleme viel klarer als die langen Lösungen, während welcher aber die Aussicht aus dem offenen Fenster freistand auf Tannen, Sonne, Berge, Dorf und über allem eine Ahnung von Wien.

Dann allerdings las ich den Brief genau, d. h. den Sonntagsbrief las ich genau, das Lesen des Montagsbriefes hebe ich mir bis zu Ihrem nächsten Brief auf, es kommen Dinge drin vor, die ich genauer zu lesen nicht ertrage, ich bin offenbar noch nicht ganz gesund, auch ist ja der Brief veraltet, meiner Rechnung nach sind 5 Briefe auf dem Weg, zumindest 3 davon müssen jetzt schon in Ihrer Hand sein, selbst wenn wieder ein Brief verloren gegangen sein sollte oder rekommandierte Briefe eine längere Zeit brauchen. Es bleibt mir jetzt nur übrig Sie zu bitten, mir noch gleich hierher zu antworten, es genügt ein Wort, aber es muß ein solches sein, das allen Vorwürfen in dem Montagsbrief die Spitzen abbricht, und sie lesbar macht. Übrigens war es gerade jener Montag, an welchem ich hier (in gar nicht aussichtsloser Weise) an meinem Verstand kräftig gerüttelt habe.

Und nun der andere Brief. - Aber ist spät, ich habe nach mehreren unbestimmten Zusagen jenem Ingenieur heute bestimmt zugesagt zu ihm zu kommen und mir die großen hierher nicht bringbaren Bilder seiner Kinder anzusehn. Er ist kaum älter als ich, Bayer, Fabrikant, sehr wissenschaftlich, aber auch lustig und einsichtig, hatte 5 Kinder, nur 2 leben (er wird allerdings wegen seiner Frau keine Kinder mehr bekommen), der Junge ist schon 13, das Mädchen 11 Jahre alt. Was für eine Welt! Und er trägt sie im Gleichgewicht. Nein, Milena, Sie sollten nichts gegen das Gleichgewicht sagen.

Ihr F                   


Morgen wieder. Sollte es aber übermorgen werden, dann nicht wieder "hassen", bitte, das nicht.


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Ich habe noch einmal den Sonntagsbrief gelesen, er ist doch schrecklicher als ich nach dem ersten Lesen dachte. Man müßte Milena Ihr Gesicht zwischen beide Hände nehmen und Ihnen fest in die Augen sehn damit Sie in den Augen des andern sich selbst erkennen und von da an nicht mehr imstande sind, Dinge wie Sie sie dort geschrieben haben, auch nur zu denken.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at