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An Milena Jesenská

[Meran, 31 . Mai 1920] Montag
 

Also die gestern versprochene Erklärung:

Ich will nicht (Milena, helfen Sie mir! Verstehen Sie mehr, als ich sage!) ich will nicht (das ist kein Stottern) nach Wien kommen, weil ich die Anstrengung geistig nicht aushalten würde. Ich bin geistig krank, die Lungenkrankheit ist nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit. Ich bin so krank seit den 4, 5 Jahren meiner ersten zwei Verlobungen. (Ich konnte mir die Fröhlichkeit Ihres letzten Briefes nicht gleich erklären, später erst fiel mir die Erklärung ein, immer wieder vergesse ich es: Sie sind ja so jung, vielleicht gar nicht 25 Jahre, erst 23 vielleicht. Ich bin 37, fast 38, fast ein kleines Menschenalter älter, fast weißhaarig von den alten Nächten und Kopfschmerzen.) Ich will nicht die lange Geschichte vor Ihnen ausbreiten mit ihren wahren Wäldern von Einzelnheiten, vor denen ich mich noch immer fürchte, wie ein Kind nur ohne des Kindes Vergessenskraft. Gemeinsam war den 3 Verlobungsgeschichten, dass ich an allem schuld war, ganz unanzweifelbar schuld, beide Mädchen habe ich unglücklich gemacht undzwar - hier rede ich nur von der ersten, von der zweiten kann ich nicht sprechen, sie ist empfindlich, jedes Wort auch das freundlichste wäre die ungeheuerlichste Kränkung für sie, ich verstehe es - undzwar nur dadurch, dass ich durch sie (die sich, wenn ich es gewollt hätte, vielleicht geopfert hätte) nicht dauernd froh, nicht ruhig, nicht entschlossen, nicht heiratsfähig werden konnte, trotzdem ich es ihr höchst freiwillig immer wieder zugesichert hatte, trotzdem ich sie manchmal verzweifelt lieb hatte, trotzdem ich nichts erstrebenswerteres kannte als die Ehe an sich. Fast 5 Jahre habe ich auf sie eingehauen (oder, wenn Sie wollen, auf mich) nun, glücklicherweise, sie war unzerbrechlich, preussisch jüdische Mischung, eine starke sieghafte Mischung. Ich war nicht so kräftig, allerdings hatte sie nur zu leiden, während ich schlug und litt.


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Zuende, ich kann nichts mehr schreiben, nichts mehr erklären, trotzdem ich erst am Anfang bin, die Geisteskrankheit beschreiben, die andern Gründe für den Nichtbesuch anführen sollte, ein Telegramm ist gekommen "Treffpunkt Karlsbad achten erbitte schriftliche Verständigung". Ich gestehe, es machte, als ich es aufmachte, ein fürchterliches Gesicht, trotzdem dahinter das selbstloseste, stillste, bescheidenste Wesen steht und trotzdem das ganze auf meinen Willen eigentlich zurückgeht. Das kann ich jetzt nicht begreiflich machen, denn ich kann mich ja auf eine Beschreibung der Krankheit nicht beziehn. Soviel ist bisher sicher, dass ich Montag von hier fortfahre, manchmal sehe ich das Telegramm an und kann es kaum lesen, es ist als wäre da eine Geheimschrift, die die obere Schrift verwischt und lautet: Fahre über Wien! ein offenbarer Befehl, aber ohne jede Schrecklichkeit der Befehle. Ich tue es nicht, schon äußerlich ist es unsinnig, nicht den kurzen Weg über München zu nehmen, sondern den doppelt so langen über Linz und dann gar auch noch weiter über Wien. Ich mache eine Probe: auf dem Balkon ist ein Spatz und erwartet dass ich ihm vom Tisch aus Brot auf den Balkon werfe, statt dessen werfe ich das Brot neben mich mitten im Zimmer auf den Boden. Er steht draußen und sieht dort in dem Halbdunkel die Speise seines Lebens, es lockt maßlos, er schüttelt sich, er ist mehr hier als dort, aber hier ist das Dunkel und neben dem Brot ich, die geheime Macht. Trotzdem überhüpft er die Schwelle, noch paar Sprünge aber mehr wagt er nicht, in einem plötzlichen Schrecken fliegt er fort. Aber was für Kräfte in diesem jämmerlichen Vogel stecken, nach einem Weilchen ist er wieder hier, untersucht die Lage, ich streue noch ein wenig, um es ihm leichter zu machen und - wenn ich ihn nicht absichtlich-unabsichtlich, so wirken die geheimen Mächte, durch eine kleine Bewegung vertrieben hätte, er hätte sich das Brot geholt.

Es ist so, dass mein Urlaub Ende Juni zuendegeht und ich zum Übergang - auch wird es hier schon sehr heiß, was mich allerdings an sich nicht stören würde - noch irgendwo anders auf dem Land sein will. Auch sie wollte fahren, nun sollen wir einander dort treffen, ich bleibe paar Tage dort und dann vielleicht noch paar Tage in Konstantinsbad bei meinen Eltern, dann fahre ich nach Prag, überblicke ich diese Reisen und vergleiche sie mit dem Zustand meines Kopfes, dann ist mir etwa so, wie es Napoleon hätte sein müssen, wenn er bei Entwerfen der Pläne für den russischen Feldzug gleichzeitig ganz genau den Ausgang gewußt hätte.

Als damals Ihr erster Brief kam, ich glaube es war kurz vor der sein sollenden Hochzeit (deren Pläne z. B. ganz ausschließlich mein Werk gewesen sind), freute ich mich und zeigte ihr ihn. Später - nein nichts mehr und diesen Brief zerreiße ich nicht wieder, wir haben ähnliche Eigenheiten, nur habe ich keinen Ofen zur Hand und fürchte fast aus Anzeichen, dass ich einmal auf die Rückseite eines solchen angefangenen Briefes einen Brief an jenes Mädchen geschickt habe.

Aber das alles ist uriwesentlich, ich wäre auch ohne das Telegramm nicht imstande gewesen nach Wien zu fahren, im Gegenteil, das Telegramm wirkt eher als Argument für die Fahrt. Ich komme ganz bestimmt nicht, sollte ich aber doch - es wird nicht geschehn zu meiner schrecklichen Überraschung in Wien sein, dann brauche ich weder Frühstück noch Abendessen, sondern eher eine Bahre auf der ich mich ein Weilchen niederlegen kann.

Leben Sie wohl, es wird keine leichte Woche hier sein

Ihr F          


Wenn Sie mir einmal ein Wort Karlsbad postlagernd schreiben wollen, nein erst nach Prag.

Was für ungeheuere Schulen sind das, in denen Sie unterrichten, 200 Schüler, So Schüler. Einen Fensterplatz in der letzten Reihe wollte ich haben, eine Stunde lang, dann verzichte ich auf jede Begegnung mit Ihnen (die allerdings auch ohne das nicht erfolgen wird) verzichte auf alle Reisen und - genug, dieses weiße Papier, das kein Ende nehmen will, brennt einem die Augen aus und darum schreibt man.


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Das war Nachmittag, jetzt geht es gegen 11. Ich habe es so geordnet, wie es im Augenblick einzig möglich war. Ich habe nach Prag telegraphiert, dass ich nach Karlsbad nicht kommen kann, erklären werde ich es mit Zerrüttung, was einerseits sehr wahr ist andererseits aber nicht sehr konsequent, denn eben wegen dieser Zerrüttung wollte ich früher nach Karlsbad. So spiele ich mit einem lebendigen Menschen. Aber ich kann nicht anders, denn in Karlsbad könnte ich weder reden noch schweigen oder richtiger: ich würde reden selbst wenn ich schwiege, den ich bin jetzt nichts anderes als ein einziges Wort. Nun fahre aber zweifellos nicht über Wien, sondern Montag über München, wohin weiß ich nicht, Karlsbad, Marienbad, jedenfalls allein. Schreiben werde ich Ihnen vielleicht, Briefe von Ihnen allerdings erst in Prag, erst in 3 Wochen bekommen.




1] Fast 5 Jahre . . . auf sie eingehauen: Die 1967 veröffentlichten Briefe an Felice Bauer aus den Jahren 1912-1917 sind Zeugnisse dieses fünfjährigen verzweifelten Kampfes um die Ehe. In einem dieser Briefe gegen Ende der Korrespondenz kennzeichnet Kafka diesen Kampf mit den Worten: ". . . ich kann nicht glauben, dass in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer." Vgl. "Briefe an Felice", S. 730; passim.


2] "Treffpunkt Karlsbad achten": In diesem Telegramm Julie Wohryzeks ist mit "achten" wahrscheinlich der 8. Juni als Zeitpunkt für die Zusammenkunft in Karlsbad gemeint. Kafka wollte also, wie er im weiteren erklärt, von Meran nicht direkt nach Prag zurückreisen, sondern zuvor noch ein paar Tage gemeinsam mit Julie in Karlsbad verbringen.


3] jenes Mädchen: Die bereits in vorausgegangenen Briefen genannte Verlobte Kafkas, Julie Wohryzek (1891-1939). Vgl. Brief vom [Ende April 1920], Anm. 3. Ihren vollen Namen nennt er nur einmal (im Brief vom [6. Juli 1920], S. 95), als er Milena ihre Adresse mitteilt. Vgl. Brief an Max Brod: "Briefe", S. 252, und Klaus Wagenbach: "Julie Wohryzek, die zweite Verlobte Kafkas" in: "Kafka-Symposion" (Berlin: Klaus Wagenbach, 1965), S.39-53.


4] ungeheuere Schulen: Milena gab Tschechisch-Unterricht an Wiener Handels- und Sprachschulen.


5] Prag . . .: von hie ab wegen Papiermangels am linken Rand dieser letzten Briefseite niedergeschrieben; dahintersteht eine längere Eintragung, die bis auf die letzten vier Wörter: Um Ihnen alles nachzumachen. unleserlich gemacht wurde. Vermutlich handelt es sich um eine schonfrüher niedergeschriebene Randnotiz, die Kafkas Wunsch, bei Milena in die Schule gehen zu können, weiter ausführt (die Beschriftung der Seite beginnt bei (lang, dann verzichte ich).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at