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An Milena Jesenská

[Meran, Mai 1920]
 

Liebe Frau Milena nur paar Worte, ich schreibe Ihnen wohl morgen wieder, heute schreibe ich nur meinetwegen, nur um etwas für mich getan zu haben, nur um den Eindruck Ihres Briefes ein wenig von mir fortzuheben, er säße sonst auf mir Tag und Nacht. Sie sind sehr sonderbar Frau Milena, Sie leben dort in Wien, müssen dies und jenes leiden und haben dazwischen noch Zeit sich zu wundern, dass es andern, etwa mir, nicht besonders gut geht und dass ich eine Nacht ein wenig schlechter schlafe als die vorige. Da hatten meine hiesigen 3 Freundinnen (3 Schwestern, die älteste 5 Jahre alt) eine vernünftigere Auffassung, sie wollten mich bei jeder Gelegenheit, ob wir beim Fluß waren oder nicht, ins Wasser werfen undzwar nicht etwa deshalb weil ich ihnen etwas Böses getan hatte, durchaus nicht. Wenn Erwachsene Kindern so drohen, so ist das natürlich Scherz und Liebe und bedeutet etwa: Jetzt wollen wir zum Spaß einmal das Allerallerunmöglichste sagen. Aber Kinder sind ernst und kennen keine Unmöglichkeit, zehnmaliges Mißlingen des Hinunterwerfens wird sie nicht überzeugen können, dass es nächstens nicht gelingen wird, ja sie wissen nicht einmal dass es in den zehn Fällen vorher nicht gelungen ist. Unheimlich sind Kinder, wenn man ihre Worte und Absichten ausfüllt mit dem Wissen des Erwachsenen. Wenn eine solche kleine Vierjährige, die zu nichts da zu sein scheint, als sie zu küssen und an sich zu drücken, dabei stark wie ein kleiner Bär, noch ein wenig bauchig aus den alten Säuglingszeiten her, gegen einen losgeht und die zwei Schwestern helfen ihr rechts und links und hinter sich hat man nur schon das Geländer und der freundliche Kinder-Vater und die sanfte schöne dicke Mutter (beim Wägelchen ihres vierten) lächeln von der Ferne dem zu und wollen gar nicht helfen, dann ist es fast zuende und es ist kaum möglich zu beschreiben wie man doch gerettet wurde. Vernünftige oder ahnungsvolle Kinder, wollten mich hinunterwerfen ohne besonderen Grund, vielleicht weil sie mich für überflüssig hielten und kannten doch nicht einmal Ihre Briefe und meine Antworten.

Das "gut gemeint" im letzten Brief muß Sie nicht schrecken. Es ist eine Zeit, eine hier nicht vereinzelte Zeit vollkommener Schlaflosigkeit, ich hatte die Geschichte niedergeschrieben, diese oft im Zusammenhang mit Ihnen durchdachte Geschichte aber als ich mit ihr zuende war, konnte ich zwischen der Schläfenspannung rechts und links nicht mehr genau erkennen, warum ich sie erzählt hatte, außerdem war da noch gestaltlos die Menge dessen was ich ihnen draußen auf dem Balkon im Liegestuhl hatte sagen wollen und so blieb mir nichts übrig als mich auf das Grundgefühl zu berufen, ich kann ja auch jetzt nicht viel anderes.

Sie haben alles was von mir erschienen ist außer dem letzten Buch "Landarzt", eine Sammlung kleiner Erzählungen, die Ihnen Wolff schicken wird, wenigstens habe ich ihm vor einer Woche deshalb geschrieben. Im Druck ist nichts, ich wüßte auch nicht was kommen könnte. Alles was Sie mit den Büchern und Übersetzungen tun werden, wird richtig sein, schade dass sie mir nicht wertvoller sind, damit die Übergabe in Ihre Hände das Vertrauen das ich zu Ihnen habe wirklich ausdrückte. Dagegen freue ich mich durch paar Bemerkungen über den Heizer, die sie wünschen, wirklich ein kleines Opfer bringen zu können, es wird der Vorgeschmack jener Höllenstrafe sein, die darin besteht dass man sein Leben nochmals mit dem Blick der Erkenntnis durchnehmen muß, wobei das Schlimmste nicht die Durchsicht der offenbaren Untaten ist sondern jener Taten die man einstmals für gut gehalten hat.

Trotzallem aber ist das Schreiben doch gut, mir ist ruhiger als vor 2 Stunden mit ihrem Brief draußen auf dem Liegestuhl. Ich lag dort, einen Schritt von mir war ein Käfer auf den Rücken gefallen und war verzweifelt, konnte sich nicht aufrichten, ich hätte ihm gern geholfen, so leicht war ihm zu helfen, eine offenbare Hilfe konnte man durchführen mit einem Schritt und einem kleinen Stoß, aber ich vergaß ihn über Ihrem Brief, ich konnte auch nicht aufstehn, erst eine Eidechse machte mich wieder auf das Leben um mich aufmerksam, ihr Weg führte sie über den Käfer, der schon ganz still war, es war also, sagte ich mir, kein Unfall gewesen, sondern ein Todeskampf, das seltene Schauspiel des natürlichen Tier-Sterbens; aber als die Eidechse über ihn hinweggerutscht war, hatte sie ihn damit aufgerichtet, zwar lag er noch ein Weilchen totstill, dann aber lief er wie selbstverständlich die Hausmauer hinauf. Irgendwie bekam ich wahrscheinlich dadurch auch ein wenig Mut wieder, stand auf, trank Milch und schrieb Ihnen.

Nein ich schicke den Brief lieber fort, morgen schicke ich Ihnen die Bemerkungen, es wird übrigens sehr wenig sein, seitenlang gar nichts, die wie selbstverständliche Wahrheit der Übersetzung ist mir wenn ich das Selbstverständliche von mir abschüttle immer wieder erstaunlich, kaum ein Mißverständnis, das wäre noch gar nicht so viel, aber immer kräftiges und entschlossenes Verstehn. Nur weiß ich nicht, ob nicht Tschechen Ihnen die Treue, das was mir das Liebste an der Übersetzung ist (nicht einmal der Geschichte wegen sondern meinetwegen), vorwerfen; mein tschechisches Sprachgefühl, ich habe auch eines, ist voll befriedigt, aber es ist äußerst voreingenommen. Jedenfalls, wenn es ihnen jemand vorwerfen sollte, suchen Sie die Kränkung mit meiner Dankbarkeit auszugleichen.

                 Ihr FranzK


Also die Bemerkungen:

Spalte I Zeile 2 arm hat hier auch den Nebensinn: bedauernswert, aber ohne besondere Gefühlsbetonung, ein unverstehendes Mitleid das auch Karl mit seinen Eltern hat, vielleicht uboží

I 9 "freie Lüfte" ist ein wenig großartiger aber da ist wohl kein Ausweg

I 17 z dobrá nálady a poněvadž byl silný chlapec ganz wegstreichen.


Nein ich schicke den Brief lieber fort, morgen schicke ich Ihnen die Bemerkungen, es wird übrigens sehr wenig sein, seitenlang gar nichts, die wie selbstverständlich Wahrheit der Übersetzung ist mir wenn ich das Selbstverständliche von mir abschüttle immer wieder erstaunlich, kaum ein Mißverständn5s, das wäre ja noch gar nicht so viel, aber immer kräftiges und entschlossenes Verstehn. Nur weiß ich nicht, ob nicht Tschechen Ihnen die Treue, das was mir das Liebste an der Übersetzung ist (nicht einmal der Geschichte wegen sondern mmeinetwegen), vorwerfen; mein tschechisches Sprachgefühl, ich habe auch eines, ist voll befriedigt, aber es ist äußerst voreingenommen. Jedenfalls, wenn es Ihnen jemand vorwerfen sollte, suchen Sie die Kränkung mit meiner Dankbarkeit auszugleichen.




1] arm: arme (Nominativ Plural). Milenna gebraucht das nur matetielle Armut bezeichnende Adjektiv "chudý"


2] z dobrá nálady a poněvadž byl silný chlapec aus guter Laune und weil er ein starker Junge war ["Der Heizer", Beginn des dritten Absatzes]


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at