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An M. E.
Liebe Minze, Sie machen mir viel Freude, wirklich, und die Tage, an denen
ich Ihre Karte und jetzt den Brief bekam, waren ausgezeichnet vor den andern.
Diese Freude ist fast unabhängig von Ihnen selbst, zunächst freut
mich nur die Tatsache, dass es jemandem gelingt, trotz aller Schwierigkeiten
(an sich waren ja Ihre Schwierigkeiten nicht allzugroß, vergleichsweise
aber ungemein groß) aus Teplitz, das ich mir für einen Menschen
Ihrer Art grauenhaft denke, viel grauenhafter, als Sie selbst es jetzt
fassen können, dass es also diesem Menschen gelingt herauszukommen
in eine doch zweifellos viel größere Welt. Das macht wirklich
Lebensmut weit um diesen Menschen herum. Daß es dann gerade Sie sind,
um die es sich handelt, und dass ich von fernster Ferne am alleräußersten
Zipfel auch irgendwie daran teilnehme, vergrößert natürlich
die Freude noch.
Und nun, da Sie einmal dort sind, mögen Sie ruhig [gestrichen: Ahlem
beschim] (nein das darf man vielleicht nicht schreiben) mit vielen Dingen
in Ahlem auch unzufrieden sein, gewiß haben Sie recht, warum sollte
es auch besonders gut sein, es ist eine westjüdische Sache, alle diese
Sachen stehn ja meist auf Abbruch da, vielleicht werden Sie selbst noch
einmal einen Balken von Ahlem nach Palästina tragen. Nein, das ist
kein Scherz, allerdings auch nicht Ernst.
Aber wie es auch dort sein mag in Ahlem, jedenfalls fangen Sie dort an
zu erkennen - jede Seite Ihres Briefes beweist das - dass die Welt,
die geistige vor allem, viel größer ist als das verfluchte Dreieck
Tephtz-Karlsbad-Prag. Und diese lebendig gewordene Erkenntnis ist ein Gewinn,
wert für ihn zu frieren; bekommt man allerdings den Ofen, ist es dann
noch viel besser. (Diese Ofengeschichte verblüfft mich allerdings
wirklich und vielleicht verstehe ich manches aus Ahlem doch nicht ganz,
solange ich im Schlafrock im geheizten Zimmer sitze mit etwa zehnmal mehr
Essen, als ich bewältigen kann). (Ein wenig erschwert das schnelle
Verständnis auch die Schrift, in Ahlem schreibt man so klein. Freilich
im Bett, doch kommt das einem nicht immer gleich zu Bewußtsein, so
bewegt und gesund ist der Brief.)
Gogol, Hafis, Li-tau-pe, eine zwar etwas zufällige Auswahl (die zwei
letzteren offenbar in Übersetzungen von Bethge oder Klabund, die nicht
allzu gut sind; von chinesischen Gedichten gibt es ein ausgezeichnetes
kleines Übersetzungsbuch, ich glaube aber, es ist
vergriffen und noch immer nicht neu erschienen, von Heilmann, in der Sammlung
"Die Fruchtschale" Verlag Piper, ich habe es einmal einem Irgendjemand
geborgt und nicht mehr bekommen), aber jedenfalls wie viel besser als die
Dahn und Baumbach Schelesner Angedenkens. Wenn Sie einmal Zeit zum Lesen
haben, borgen Sie sich - in jeder Leihbibliothek ist es zu haben - Lily
Braun "Memoiren einer Sozialistin" aus, zwei
sehr dicke Bände, die Sie aber durchfliegen werden, man kann nicht
anders. In Ihrem Alter, glaube ich, war sie auch schon nur auf sich gestellt
und mit der Moral ihrer Klasse (eine solche Moral ist jedenfalls lügnerisch,
darüber hinaus aber fängt das Dunkel des Gewissens an) hatte
sie viel Leid, aber sie hat sich durchgekämpft wie ein streitbarer
Engel.
Freilich lebte sie in ihrem Volk. Was Sie darüber sagen, nehme ich
nicht als etwas Endgültiges, auch glaubte ich nicht, bei weitem nicht,
dass Sie den einzelnen Juden wegen seines Judentums lieb haben sollen
oder dass zwanzig jüdische Mädchen oder auch hundert, um
Sie gruppiert, Ihnen den Halt eines Volkstums werden geben können,
aber eine Ahnung der Möglichkeiten vielleicht. Und dann: vielleicht
braucht die Frau wirklich das Volkstum weniger für sich, aber der
Mann braucht es und so braucht es auch die Frau für ihn und ihre Söhne.
So etwa.
Was Sie über Ihre Gärtnerzukunft sagen, verstehe ich noch nicht
ganz, darüber würde ich gern noch etwas hören. Was für
Siedlungen sind es, von denen Sie schreiben? Sind lauter Jüdinnen
in der Anstalt? Und die Lehrer Juden? Von den Jungens schreiben Sie gar
nicht. Wie weit ist Hannover? Man kann frei hinfahren? (Dieses Judentum
übrigens, das so hochmütig auf die Deutschen hinunterschaut,
ist mehr als ich wollte. Auch ist Deutschland mehr als Hannover.)
Gern würde ich übrigens einmal ein Weilchen, wenn große
Gesellschaft ist (wie alt sind die Mädchen?), in Ihrem Zimmer sitzen
(warum erwähnen Sie den Prospekt in Ihrem Brief?), womöglich
auf dem Ofen, weil mir leicht kalt wird, und zuhören und mitsprechen
und mitlachen (so gut ich es kann). Vorläufig allerdings fahre ich
in etwa 14 Tagen nach Niederösterreich in ein Sanatorium, es geht
mir aber erträglich. Glücklichen Kampf!
Ihr Kafka
Übersetzungsbuch: Hans Heilmann, Chinesische
Lyrik vom 24. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. München, 1905.
Memoiren einer Sozialistin: Lily Braun, Memoiren
einer Sozialistin. Zwei Bände. München, 1909-1911.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at