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An M. E.

Prag, November/Dezember 1920
 

Liebe Minze, Sie machen mir viel Freude, wirklich, und die Tage, an denen ich Ihre Karte und jetzt den Brief bekam, waren ausgezeichnet vor den andern. Diese Freude ist fast unabhängig von Ihnen selbst, zunächst freut mich nur die Tatsache, dass es jemandem gelingt, trotz aller Schwierigkeiten (an sich waren ja Ihre Schwierigkeiten nicht allzugroß, vergleichsweise aber ungemein groß) aus Teplitz, das ich mir für einen Menschen Ihrer Art grauenhaft denke, viel grauenhafter, als Sie selbst es jetzt fassen können, dass es also diesem Menschen gelingt herauszukommen in eine doch zweifellos viel größere Welt. Das macht wirklich Lebensmut weit um diesen Menschen herum. Daß es dann gerade Sie sind, um die es sich handelt, und dass ich von fernster Ferne am alleräußersten Zipfel auch irgendwie daran teilnehme, vergrößert natürlich die Freude noch.

Und nun, da Sie einmal dort sind, mögen Sie ruhig [gestrichen: Ahlem beschim] (nein das darf man vielleicht nicht schreiben) mit vielen Dingen in Ahlem auch unzufrieden sein, gewiß haben Sie recht, warum sollte es auch besonders gut sein, es ist eine westjüdische Sache, alle diese Sachen stehn ja meist auf Abbruch da, vielleicht werden Sie selbst noch einmal einen Balken von Ahlem nach Palästina tragen. Nein, das ist kein Scherz, allerdings auch nicht Ernst.

Aber wie es auch dort sein mag in Ahlem, jedenfalls fangen Sie dort an zu erkennen - jede Seite Ihres Briefes beweist das - dass die Welt, die geistige vor allem, viel größer ist als das verfluchte Dreieck Tephtz-Karlsbad-Prag. Und diese lebendig gewordene Erkenntnis ist ein Gewinn, wert für ihn zu frieren; bekommt man allerdings den Ofen, ist es dann noch viel besser. (Diese Ofengeschichte verblüfft mich allerdings wirklich und vielleicht verstehe ich manches aus Ahlem doch nicht ganz, solange ich im Schlafrock im geheizten Zimmer sitze mit etwa zehnmal mehr Essen, als ich bewältigen kann). (Ein wenig erschwert das schnelle Verständnis auch die Schrift, in Ahlem schreibt man so klein. Freilich im Bett, doch kommt das einem nicht immer gleich zu Bewußtsein, so bewegt und gesund ist der Brief.)

Gogol, Hafis, Li-tau-pe, eine zwar etwas zufällige Auswahl (die zwei letzteren offenbar in Übersetzungen von Bethge oder Klabund, die nicht allzu gut sind; von chinesischen Gedichten gibt es ein ausgezeichnetes kleines Übersetzungsbuch, ich glaube aber, es ist vergriffen und noch immer nicht neu erschienen, von Heilmann, in der Sammlung "Die Fruchtschale" Verlag Piper, ich habe es einmal einem Irgendjemand geborgt und nicht mehr bekommen), aber jedenfalls wie viel besser als die Dahn und Baumbach Schelesner Angedenkens. Wenn Sie einmal Zeit zum Lesen haben, borgen Sie sich - in jeder Leihbibliothek ist es zu haben - Lily Braun "Memoiren einer Sozialistin" aus, zwei sehr dicke Bände, die Sie aber durchfliegen werden, man kann nicht anders. In Ihrem Alter, glaube ich, war sie auch schon nur auf sich gestellt und mit der Moral ihrer Klasse (eine solche Moral ist jedenfalls lügnerisch, darüber hinaus aber fängt das Dunkel des Gewissens an) hatte sie viel Leid, aber sie hat sich durchgekämpft wie ein streitbarer Engel.

Freilich lebte sie in ihrem Volk. Was Sie darüber sagen, nehme ich nicht als etwas Endgültiges, auch glaubte ich nicht, bei weitem nicht, dass Sie den einzelnen Juden wegen seines Judentums lieb haben sollen oder dass zwanzig jüdische Mädchen oder auch hundert, um Sie gruppiert, Ihnen den Halt eines Volkstums werden geben können, aber eine Ahnung der Möglichkeiten vielleicht. Und dann: vielleicht braucht die Frau wirklich das Volkstum weniger für sich, aber der Mann braucht es und so braucht es auch die Frau für ihn und ihre Söhne. So etwa.

Was Sie über Ihre Gärtnerzukunft sagen, verstehe ich noch nicht ganz, darüber würde ich gern noch etwas hören. Was für Siedlungen sind es, von denen Sie schreiben? Sind lauter Jüdinnen in der Anstalt? Und die Lehrer Juden? Von den Jungens schreiben Sie gar nicht. Wie weit ist Hannover? Man kann frei hinfahren? (Dieses Judentum übrigens, das so hochmütig auf die Deutschen hinunterschaut, ist mehr als ich wollte. Auch ist Deutschland mehr als Hannover.)

Gern würde ich übrigens einmal ein Weilchen, wenn große Gesellschaft ist (wie alt sind die Mädchen?), in Ihrem Zimmer sitzen (warum erwähnen Sie den Prospekt in Ihrem Brief?), womöglich auf dem Ofen, weil mir leicht kalt wird, und zuhören und mitsprechen und mitlachen (so gut ich es kann). Vorläufig allerdings fahre ich in etwa 14 Tagen nach Niederösterreich in ein Sanatorium, es geht mir aber erträglich. Glücklichen Kampf!

Ihr Kafka




Übersetzungsbuch: Hans Heilmann, Chinesische Lyrik vom 24. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart. München, 1905.


Memoiren einer Sozialistin: Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin. Zwei Bände. München, 1909-1911.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at