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An M. E.

[Prag, Sommer 1920]
 

Liebe Minze, woher hätte ich denn das alles wissen sollen. Jetzt auf einem Gut und im Herbst in Ahlem! Wenn Sie scharf nachgedacht hätten, womit Sie mir die größte Freude machen könnten, und zwar eine wirkliche Freude, die einen, wenn man müde, unausgeschlafen, welk geradezu (es ist aber nicht ganz so schlimm) ins Bureau kommt, frisch und zuversichtlich machen könnte, so hätte es nichts anderes sein können als Ihr Brief und das Bildchen. Man muß es ja natürlich nicht übertreiben, Sie heißen zwar Assistentin (Du schönes Wort! heute ist man noch ein gewöhnlicher Mensch und morgen ist man schon Assistentin), aber vielleicht ist es doch nur eine Art Sommerfrische und Sich-nützlich-machen (das ist aber keine Verdächtigung, es ist nur immer noch Staunen darüber, dass Sie etwas so Leichtes und doch gar nicht Leichtes verwirklicht haben sollten). Aber dann lese ich auf dem Bildchen Pfingstmontag und das ist doch schon lange her und noch immer sind Sie dort, das ist doch schon sehr viel. Und auch ein Schweinchen können Sie schon halten, würgen es zwar noch ein wenig, aber halten es doch gut und haben dazu auch braune, glänzende, kräftige Arme. Nein, wie viel lieber ist mir Minze auf dem Düngerkarren, als Kleopatra auf ihrem goldenen Thron.

Und vor Ahlem müssen Sie sich gewiß nicht fürchten. Wenn es dort auch vielleicht nicht so frei sein wird, wie in Ihrem jetzigen Leben (wie verwenden Sie die Freizeit?), so wird es doch fremdes Land sein, fremde Menschen, neue Dinge, neues Ziel, da ist es doch fast gut, zunächst ein wenig gebunden zu sein, man ginge doch sonst in Fransen. Und diese angebliche Freiheit in Teplitz war doch vielleicht eher ein Gebundensein mit den allerkürzesten Hand- und Fußketten, war eher Ohnmacht als Freiheit. Es ist ein Wunder, dass Sie dort losgekommen sind.

Gewiß sind Sie auch schon gesund und haben keine Rückenschmerzen mehr. Jetzt bei Ihrem Brief fällt mir ein, dass ich letzthin einmal Herrn Stransky und einmal Hr. Kopidlansky gesehn habe, aber ganz flüchtig, undeutlich wie im Traum, ich weiß nicht genau, wo; beide sahen nicht sehr gut aus. Mir geht es knapp leidlich, Meran hat mir gesundheitlich nichts geholfen. Es ist eben der "innere Feind", der zehrt und keine eigentliche Erholung zuläßt. Ja wenn man ihm als lebendes Schweinchen auf den Schoß nehmen könnte, aber wer könnte den aus seiner Tiefe heraufholen. Doch ist das keine Klage; darüber klagen hieße über das Leben klagen und das wäre sehr dumm.

Herzliche Grüße und nochmals vielen Dank

Ihr Kafka


Übrigens müssen Sie, Minze, nicht glauben, dass ich mir nach dem Bild Milsau nicht jetzt auch schon ein wenig vorstellen kann. Etwa so: eben, gegen Süden mit sanft aufsteigenden Lehnen. Humusreicher schwarzer Lehmboden mit Kalk und Sand gemischt. Lehmuntergrund. Basaltformation. Nicht sehr groß, kaum 60 ha bebauter Boden, Weizen, Gerste, Zuckerrübe, Korn. Etwa 42 Häuser mit etwa 268 Einwohnern (und Minze). In die Kirche muß man nach Brunnersdorf gehn.

Genug erkannt nach einem so kleinen Bild, nicht? Und dabei hat man doch gar nicht recht Zeit sich umzusehn, denn es hält einen Ihr Blick, der kritische Blick der Bäuerin, die nach dem Wetter ausschaut.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at