Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An M. E.

[Prag, März 1920]
 

Liebe Minze,

man liegt krank, hat zartes Fieber nach alter nicht mehr abzugewöhnender Gewohnheit, und dann kommen noch Sie und melden, dass man Sie in Ahlem nicht angenommen hat. Man hätte schon noch ein Plätzchen für Sie finden können, offenbar weiß man dort nicht, wie klein Sie sich zusammenrollen können. Inzwischen habe ich auch noch von etwas anderem Jüdischen gehört, Opladen bei Köln, aber auch dort ist alles besetzt und nur für das nächste mit April beginnende Jahr undeutliche Aussichten, vielleicht erfahre ich aber darüber noch Bestimmteres. Und Immenhof - oder hieß es anders? - hat gar nicht geantwortet? Und jetzt in Großpriesen praktizieren - von Großpriesen schweigen Sie beharrlich - und nächstes Jahr nach Ahlem gehn ist unausführbar? Warum? Inzwischen Gemüse auf Damenhüten pflanzen, ist ein schwacher Ersatz und kein sehr erfreulicher, da es in Teplitz vor sich geht. Ich kann Teplitz, das ich noch nie gesehen habe, leicht leiden. Es ist eben Ihr Heimatort und für einen nur irgendwie beunruhigten Menschen ist der Heimatort, selbst wenn er sich darüber gern täuscht, etwas sehr Unheimatliches, ein Ort der Erinnerungen, der Wehmut, der Kleinlichkeit, der Scham, der Verführung, des Mißbrauchs der Kräfte.

Der Heimatort bringt es auch in seiner gedanklichen Enge mit sich, dass Sie die Menschen und sich oder vielmehr die andern Mädchen und sich in einem solchen Gegensatz sehn. Gegensätze bestehn gewiß, weil eben die Welt hinsichtlich des Chaotischen mit Ihrem Kopf verwandt ist, aber so einfach wie Sie es tun - hier die andern Mädchen, hier ich - ist der Schnitt gewiß nicht zu führen. Böses Teplitz.


Mein Kranksein hat den Brief verzögert, es ist übrigens kein eigentliches Kranksein, aber allerdings auch kein Gesundsein und gehört zu jener Gruppe von Krankheiten, die nicht dort ihren Ursprung haben, wo sie zu stecken scheinen und vor denen die Ärzte deshalb noch hilfloser sind als sonst. Gewiß, es ist die Lunge, aber es ist auch wieder die Lunge nicht. Vielleicht fahre ich doch nach Meran oder auch nach dem Mond, wo überhaupt keine Luft ist und sich die Lunge deshalb am besten ausruhn kann.

Die Bilder haben mich sehr gefreut, zunächst deshalb, weil es doch ein großes Zeichen des Vertrauens ist, dass Sie mir etwas so Kostbares, wie es das Bild des Vaters für Sie ist, borgen. Natürlich ist bei der Reproduktion manches verloren gegangen, es ist doch nur ein Bild aus zweiter Hand. Manches aber glaubt man doch zu erkennen, eine schöne Stirn, zarte Schläfen, Energie, ein mühseliges Leben. Merkwürdig ist die gezwungene Haltung der Hände.

Das Kind ist prachtvoll. Der Körper so schön tierhaft wie ein Seehund auf einer Eisscholle im Polarmeer, das Gesicht so schön menschlich, übrigens eher mädchenhaft, der Ausdruck der Augen, die Fülle des Mundes. Das mag allerdings ein guter Trost sein, gar wenn es das eigene Kind ist und der Neffe ist ja fast das Kind der Tante. Aber in Teplitz sollen Sie sich auch von den schönsten zwei Händchen nicht festhalten lassen.

Ihr Kafka.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at