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An M. E.

[Prag, Februar 1920]
 

Liebe Minze, gewiß darf man solche Briefe schicken und ganz besonders solche. Andere, zusammenhängendere, weniger zerstreute Briefe können oft wider Willen eine Hauptsache verdecken, ein solcher brüchiger, aus paar Stücken bestehender Brief verdeckt nichts, es liegt dann wirklich nur an der Blickkraft, wie viel man sieht, ein solcher Brief ist so vertraulich, als wäre man in einer gemeinsamen Wohnung, allerdings durch 1000 Zimmer getrennt, deren Türen aber in einer Reihe offenstehn, so dass man Sie, wenn auch natürlich nur schon sehr klein und undeutlich, im letzten Zimmer sieht und was man sieht, Minze, scheint weder sehr schön, noch sehr lustig, noch sehr gut.

Im übrigen, Minze, sind Sie (oder vielmehr wären es, wenn man es ausnützte) scharfsinnig und mit Recht rechthaberisch wie ein kleiner Rabbiner. Natürlich werden Sie den notwendigen Halt nicht in der Schule eingerammt bekommen, sondern müssen ihn in sich haben, aber vielleicht werden Sie ihn dort in sich finden, das wäre ganz gut denkbar. Denn so übersichtlich Minze äußerlich scheint, innerlich ist sie doch, wie eben jeder, unübersehbar unendlich und alles ist dort zu finden, was ehrlich gesucht wird.

Vor mir liegt ein Bericht über die "Ahlemer Gartenbauschule" mit Bildern. Nun dort ist es prachtvoll und zu meinem nächsten Geburtstag wünsche ich mir nichts Besseres als 19jährig zu werden und nach Ahlem - das ist nämlich Ihre Simonsche Schule - zu kommen. Die Gartenbauschule für Mädchen ist übrigens erst seit Kriegsende eingerichtet, bis dahin gab es nur eine Knabengartenbau und eine Mädchenhaushaltungsschule. Auch das verstärkt vielleicht die Hoffnung, dass Sie angenommen werden. Möge es bald sein!

Ihr Kafka


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at