Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[Meran, Mitte Juni 1920]

[An:] Herrn Dr Max Brod Prag V Břehová ul. 8

[Abs.:] Dr Kafka Meran-Untermais Haus Ottoburg


Danke, Max, Dein Brief hat mir sehr wohl getan. Auch die Geschichte war zu rechter Zeit erzählt, ich habe sie zehnmal gelesen und zehnmal über ihr gezittert, sie auch mit Deinen Worten wiedererzählt.

    Aber der Unterschied zwischen uns besteht. Siehst Du, Max, es ist doch etwas ganz anderes, Du hast eine ungeheuere Festung, ein Ring ist vom Unglück eingenommen, aber Du bist im Innersten oder wo Du sonst zu sein Lust hast, und arbeitest, arbeitest gestört, unruhig, aber arbeitest, ich aber brenne selbst, ich habe plötzlich gar nichts, paar Balken, stützte ich sie nicht mit meinem Kopf, würden sie zusammenbrechen und nun brennt diese ganze Armut. Klagte ich? Ich klage nicht. Mein Anblick klagt. Und wessen ich gewürdigt bin, das weiß ich.

    Die zweite Nachricht freut mich natürlich, zum Teil stammt sie schon aus meiner Zeit. Inzwischen habe ich diesem Menschen das Schlimmste getan, was ich ihm tun konnte, und vielleicht auf die schlimmste Weise. So wie ein Waldarbeiter in einen Baum hineinhackt (aber er hat den Befehl). [Ein Satz unleserlich gemacht] Du siehst, Max, Scham habe ich noch.

    Gern wäre ich im Mai bei Dir gewesen und ich freue mich sehr auf Dich.

    Nur eine Stelle stört Deinen Brief. Wo Du vom Gesund-werden sprichst. Nein, davon ist seit einem Monat keine Rede mehr. Übrigens hast Du ja die Insel Carina geschrieben.

Dein Franz        
 


Grüße Deine Frau.

Weißt Du zufällig etwas von Ottla? Sie schreibt mir wenig. Mitte Juli soll Hochzeit sein.

`Oskar schreibe ich, aber was soll ich schreiben, da ich nur eines zu schreiben habe.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


wiedererzählt: In seinem Brief an Milena vom 12. Juni 1920 (M 57-59).


Die zweite Nachricht: Über Julie Wohryzek (siehe Brods vorigen Brief und 1919 Anm.7). Vgl. auch Kafkas testamentarischen Brief vom 29. November 1922, aus dem hervorgeht, dass seine zweite Verlobte später geheiratet hat.


die Insel Carina: Brods Geschichte "Die Insel Carina", bereits 1907 erschienen (siehe 1907, Anm. 9), war kurz zuvor in Max Brod, Die Einsamen. München: Kurt Wolff 1919, wiederabgedruckt worden.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at