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[An Max Brod und Felix Weltsch]

[Stempel: Meran, 10.4.20]

[An:] Herrn Dr Felix Weltsch Prag Universitní knihovna Tsechslowakei

[Abs.:] Dr Kafka Südtirol, Meran-Untermais Pension Ottenburg


Lieber Max, den ersten Abend in meinem neuen Zimmer, es scheint recht gut zu sein, die Qualen des Suchens, Sich-Entscheidens, vor allem des Abschiednehmens vom alten Zimmer (es scheint der einzige sichere Boden unter den Füßen und man stößt ihn fort wegen ein paar Lire und sonstiger Kleinigkeiten, die doch wieder erst bei sicheren Verhältnissen Wert bekommen), alle diese Qualen kann das neue Zimmer natürlich nicht aufwiegen, es ist auch nicht nötig, sie sind vorüber und ihr Urgrund bleibt, treibt tropischer als alle Vegetation hier.

    Ich schreibe auf dem Balkon, ½8 Uhr abends (Sommerzeit) immerhin ein wenig kühl, der Balkon ist in einen Garten eingesenkt, fast ein wenig zu tief, ich hätte die Höhe lieber (aber finde einen hohen Balkon, wenn tausend solche Balkone und keiner weniger zu haben sind), aber es hat keinen sachlichen Nachteil, denn die Sonne scheint mir stark bis 6 Uhr abends her, das Grün herum ist schön, Vögel und Eidechsen kommen zu mir her.

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    Bisher habe ich in einem der ersten Hotels gewohnt oder vielleicht überhaupt in dem ersten, denn die andern gleichrangigen sind geschlossen. Die Gäste waren einige vornehme Italiener, dann noch ein paar andere Eindringlinge, der große Rest Juden, zum Teil getauft (aber was für abscheuliche jüdische Kräfte können bis ans Bersten in einem getauften Juden leben, erst in den christlichen Kindern der christlichen Mutter glättet es sich). Dort war z. B. ein türkisch-jüdischer Teppichhändler, mit dem ich meine paar hebräischen Worte gewechselt habe, ein Türke an Gestalt, Unbeweglichkeit und Frieden, ein Duzfreund des Konstantinopler Großrabbiners, den er merkwürdiger Weise für einen Zionisten hält. - Dann ein Prager Jude, der bis zum Umsturz (im Vertrauen) Mitglied sowohl des Deutschen Hauses als der Meštanská beseda gewesen ist, jetzt nur mit großer Protektion die Entlassung aus dem Kasino durchgesetzt hat (Streichung bis zur vollständigsten Unlesbarkeit) und seinen Sohn sofort in die tschechische Realschule hat übertreten lassen "er wird jetzt nicht deutsch, und nicht tschechisch können, wird er bellen". Gewählt hat er "nach seiner Konfession", natürlich. Aber das alles charakterisiert ihn gar nicht, berührt seinen Lebensnerv nicht von der Ferne, es ist ein guter, lebendiger, witziger, begeisterungsfähiger alter Herr.

    Die Gesellschaft in meiner jetzigen Pension (ich fand sie zufällig, läutete zufällig an der Hausglocke nach langem hilflosem sonstigem Suchen, beachtete,wie mir jetzt einfällt, eine kurz vorher gegebene Warnung nicht, als mich eine aus der Fassung geratene Kirchgängerin, es war Ostermontag, auf der Gasse anschrie "Luther ist ein Teufel!"), die Gesellschaft also ist ganz deutsch-christlich, hervorstechend: ein paar alte Damen, dann ein gewesener oder gegenwärtiger, es ist ja das gleiche, General und ein ebensolcher Oberst, beide kluge, angenehme Leute. Ich hatte gebeten, mir im gemeinsamen Speisezimmer auf einem separierten Tischchen zu servieren, ich sah, dass auch sonst derartig serviert wurde, auch fällt das Vegetarische so weniger auf und vor allem, man kann besser kauen und es ist überhaupt sicherer. Allerdings auch komisch, besonders als sich herausstellte, dass, genau genommen, ich als einziger separiert saß. Ich machte später die Wirtin darauf aufmerksam, aber sie beruhigte mich, wußte auch etwas vom "Fletschern" und will, dass ich zunehme. Nun nötigte mich aber heute der Oberst, als ich ins Speisezimmer kam (der General war noch nicht da), so herzlich zum gemeinsamen Tisch, dass ich nachgeben mußte. Nun ging die Sache ihren Gang. Nach den ersten Worten kam hervor, dass ich aus Prag bin; beide, der General (dem ich gegenüber saß) und der Oberst kannten Prag. Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun in diese treuen deutschen militärischen Augen, was du eigentlich bist. Irgendwer sagt: "Deutschböhme", ein anderer "Kleinseite". Dann legt sich das Ganze und man ißt weiter, aber der General mit seinem scharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr, ist nicht zufrieden, nach dem Essen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an, vielleicht zweifelt übrigens mehr das Auge als das Ohr. Nun kann ich das mit meinem Judentum zu erklären versuchen. Wissenschaftlich ist er jetzt zwar zufriedengestellt, aber menschlich nicht. In demselben Augenblick, wahrscheinlich zufällig, denn alle können das Gespräch nicht gehört haben, aber vielleicht doch in irgendeinem Zusammenhang erhebt sich die ganze Gesellschaft zum Weggehn (gestern waren sie jedenfalls lange beisammen, ich hörte es da meine Tür an das Speisezimmer grenzt). Auch der General ist sehr unruhig, aus Höflichkeit bringt er aber doch das kleine Gespräch zu einer Art Ende, ehe er mit großen Schritten wegeilt. Menschlich befriedigt mich ja das auch nicht sehr, warum muß ich sie quälen?, sonst ist es eine gute Lösung, ich werde wieder allein sein ohne das komische Alleinsitzen, vorausgesetzt, dass man nicht irgendwelche Maßregeln ausdenken wird. Im übrigen werde ich jetzt Milch trinken und schlafen gehn.

    Leb wohl!

Dein Franz        
 


Lieber Felix, meine kleinen Neuigkeiten gehören auch Dir. Was die Sonne betrifft, so habe ich nie geglaubt, im Grunde nie geglaubt, dass hier immerfort klare sonnige Tage sind und es ist auch nicht wahr, bisher, heute ist Donnerstag abend, waren 1½ solche Tage und selbst die waren von einer allerdings äußerst angenehmen Kühle, sonst aber war Regen und fast Kälte. Wie kann man auch anderes erwarten so nah bei Prag, nur die Vegetation täuscht, bei einem Wetter, bei dem in Prag fast die Pfützen gefrieren, öffnen sich hier vor meinem Balkon langsam die Blüten.

    Alles Gute! Grüßt bitte auch die Frauen und Oskar

Dein Franz        


Bitte könntest Du mir die Selbstwehr schicken? (Die Nummer mit Deinem Wunder-Aufsatz habe ich schon gelesen.)



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


einem . . . Hotels: "Gasthof Emma" (siehe O 77 f.).


Deutschen Hauses . . . Měštanská beseda: Das "Deutsche Haus" (oder "Casino") am Graben, mit seinen großen Klubräumen, bezeichnete Kafka als "eine zwar allgemeine, aber unter den hiesigen Deutschen doch vornehmste Vereinigung" (F 313). Für die tschechische Gesellschaft Prags spielte die Měštanská Beseda eine ähnliche Rolle.


"Fletchern": Eigentlich "fletschern" ("sehr sorgfältig kauen"), ein nach dem amerikanischen Gesundheitsprediger Horace Fletcher gebildetes Wort.


"Kleinseite": Der Stadtteil Prags am linken Ufer der Moldau (Malá Strana).


Selbstwehr: Felix Weltsch hatte im Herbst 1919 die Leitung der Selbstwehr übernommen.


Wunder-Aufsatz: Weltsch hat am 2. April 1920 in der Selbstwehr die Uraufführung von Oskar Baums Stück Das Wunder besprochen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at