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An M. E.
Liebes Fräulein Minze oder da Fräulein und Minze nicht zusammenpassen:
liebe Minze, Sie haben mir eine große Freude gemacht, durch die Bilder
natürlich auch, vor allem aber weil Sie das sind, was ich glaubte,
nämlich vertrauenswürdig, worthaltend und gut. Das ist die Hauptsache.
Und deshalb kann ich auch über die Bilder die Wahrheit sagen; sie
zeigen, wie jedes Abbild eines Guten, manches, wofür man dankbar ist
und was man mit eigenen Augen nicht erkannt hätte. Sie sind ja eine
erstaunliche Schauspielerin oder richtiger Sie haben das erstaunliche Material
einer Schauspielerin oder Tänzerin und die (im hohen Sinn) göttliche
Frechheit des Angeschaut-werden-könnens und Des-dem-Blicke-standhaltens.
Das hätte ich nicht gedacht. Aber, das fürchte ich, dieses Material
ist bei dem Photographen, ein so ausgezeichneter Mensch er sonst sein mag,
in keiner guten, verständigen Hand. Was daran gut ist, sind deutlich
Sie selbst, in I macht er etwas z. B. aus Schnitzler Anatol, in II eine
Kameliendame, in III etwas Wedekindsches, in IV endlich die Kleopatra (des
ersten Abends), vorausgesetzt, dass es nicht die Fern
Andra ist. So mischt er die Dinge und hat ja gewiß überall
ein wenig Recht, aber im ganzen meinem Gefühl nach niemals, da sind
sie ihm durch die Finger gelaufen. Damit will ich nicht sagen, dass
Sie solchem Photographieren aus dem Weg gehn sollten, ich bin überzeugt,
es schadet Ihnen innerlich gar nichts, Sie sollten aber solchen Dingen
gegenüber immer sich den Zweifel bewahren, so wie Sie ihn bewahren
sollten gegenüber den Dahn und Baumbach Ihres Heftes, gegenüber
Süßlichkeit, Unwahrheit, Künstlichkeit, da Sie doch in
Ihrem Wesen besser sind als alles das und ganz gewiß darüber
wegtanzen werden, wie über den gefrorenen Weg zum geweihten Brunnen,
wo viele andere entweder dumm gefallen oder süßlich gestolpert
wären. Ich bleibe dabei, dass es sehr gut ist, dass Sie
nach Holzminden kommen, was doch eine Art weite Welt
ist und ohne den roten Teplitzer Hintergrund.
Die Bilder aber darf ich mir behalten, nicht wahr, da kein Gegenbefehl
im Brief stand. Und schreiben Sie mir wieder einmal, besonders wenn Sie
den Ort wechseln. Es ist doch vielleicht gar nicht so schlimm einen guten
Freund zu haben.
Adieu Minze, grüßen Sie dort alle herzlich und das Fräulein
noch ausdrücklich
Ihr Kafka
M. E:Die Adressatin ist allem Anschein nach identisch
mit dem "jungen Mädchen", das am Schluß der Erinnerungen
von Dora Gerrit (siehe Seite 332 der Biographie) erwähnt wird: "Er
warnte, beschwor, lehrte sie, sich der Zukunft in Arbeit zu ergeben und
alle Besserung in Wirken und Leisten zu erhoffen." Kafka lernte Minze
E. in dem kleinen nordwestböhmischen Dorf Schelesen kennen, das Kafka
öfters besucht hat. Hier handelt es sich um seinen Aufenthalt im Winter
1919-20 in der Pension Stüdl in der auch Minze E., nach langer Krankheit
Rekonvaleszenz suchte.
Fern Andra: eine in jenen Jahren berühmte
Filmschauspielerin.
Holzminden: eine Schule für landwirtschaftliche
Ausbildung.
Fräulein: Fräulein Stüdl, die Inhaberin
der Pension, von den Gästen allgemein das "Gnu" genannt.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at