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An M. E.

Samstag, [Prag, Winter 1919/20]
 

Liebes Fräulein Minze oder da Fräulein und Minze nicht zusammenpassen: liebe Minze, Sie haben mir eine große Freude gemacht, durch die Bilder natürlich auch, vor allem aber weil Sie das sind, was ich glaubte, nämlich vertrauenswürdig, worthaltend und gut. Das ist die Hauptsache. Und deshalb kann ich auch über die Bilder die Wahrheit sagen; sie zeigen, wie jedes Abbild eines Guten, manches, wofür man dankbar ist und was man mit eigenen Augen nicht erkannt hätte. Sie sind ja eine erstaunliche Schauspielerin oder richtiger Sie haben das erstaunliche Material einer Schauspielerin oder Tänzerin und die (im hohen Sinn) göttliche Frechheit des Angeschaut-werden-könnens und Des-dem-Blicke-standhaltens. Das hätte ich nicht gedacht. Aber, das fürchte ich, dieses Material ist bei dem Photographen, ein so ausgezeichneter Mensch er sonst sein mag, in keiner guten, verständigen Hand. Was daran gut ist, sind deutlich Sie selbst, in I macht er etwas z. B. aus Schnitzler Anatol, in II eine Kameliendame, in III etwas Wedekindsches, in IV endlich die Kleopatra (des ersten Abends), vorausgesetzt, dass es nicht die Fern Andra ist. So mischt er die Dinge und hat ja gewiß überall ein wenig Recht, aber im ganzen meinem Gefühl nach niemals, da sind sie ihm durch die Finger gelaufen. Damit will ich nicht sagen, dass Sie solchem Photographieren aus dem Weg gehn sollten, ich bin überzeugt, es schadet Ihnen innerlich gar nichts, Sie sollten aber solchen Dingen gegenüber immer sich den Zweifel bewahren, so wie Sie ihn bewahren sollten gegenüber den Dahn und Baumbach Ihres Heftes, gegenüber Süßlichkeit, Unwahrheit, Künstlichkeit, da Sie doch in Ihrem Wesen besser sind als alles das und ganz gewiß darüber wegtanzen werden, wie über den gefrorenen Weg zum geweihten Brunnen, wo viele andere entweder dumm gefallen oder süßlich gestolpert wären. Ich bleibe dabei, dass es sehr gut ist, dass Sie nach Holzminden kommen, was doch eine Art weite Welt ist und ohne den roten Teplitzer Hintergrund.

Die Bilder aber darf ich mir behalten, nicht wahr, da kein Gegenbefehl im Brief stand. Und schreiben Sie mir wieder einmal, besonders wenn Sie den Ort wechseln. Es ist doch vielleicht gar nicht so schlimm einen guten Freund zu haben.

Adieu Minze, grüßen Sie dort alle herzlich und das Fräulein noch ausdrücklich

Ihr Kafka




M. E:Die Adressatin ist allem Anschein nach identisch mit dem "jungen Mädchen", das am Schluß der Erinnerungen von Dora Gerrit (siehe Seite 332 der Biographie) erwähnt wird: "Er warnte, beschwor, lehrte sie, sich der Zukunft in Arbeit zu ergeben und alle Besserung in Wirken und Leisten zu erhoffen." Kafka lernte Minze E. in dem kleinen nordwestböhmischen Dorf Schelesen kennen, das Kafka öfters besucht hat. Hier handelt es sich um seinen Aufenthalt im Winter 1919-20 in der Pension Stüdl in der auch Minze E., nach langer Krankheit Rekonvaleszenz suchte.


Fern Andra: eine in jenen Jahren berühmte Filmschauspielerin.


Holzminden: eine Schule für landwirtschaftliche Ausbildung.


Fräulein: Fräulein Stüdl, die Inhaberin der Pension, von den Gästen allgemein das "Gnu" genannt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at