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Brief an Max Brod

[Schelesen]

2. März [1919]

Lieber Max, nun habe ich Dir noch nicht einmal für das schöne Buch gedankt. Es tut wohl, im Geist des Buches eine Zeit zu leben. Ich habe dabei noch den Vorteil oder Nachteil, dass sich mir Jugenderinnerungen und Jugendgefühle in alles mischen.

    Auch das Fräulein läßt Dir sehr danken, sie hat es gründlich gelesen und sogar auffallend verstanden, allerdings mit einer besondern Art mädchenhaften Augenblickverständnisses. Sie ist übrigens nicht so beziehungslos gegenüber dem Zionismus, als ich anfangs dachte. Ihr Bräutigam, der im Krieg gefallen ist, war Zionist, ihre Schwester geht in jüdische Vorträge, ihre beste Freundin ist beim Blau-Weiß und "versäumt keinen Vortrag von Max Brod".

    Was mich betrifft: ich verbringe meine Zeit lustig (grob gerechnet habe ich in den letzten 5 Jahren nicht so viel gelacht wie in den letzten Wochen), aber es ist auch eine schwere Zeit. Nun, vorläufig trage ich sie, aber es ist nicht ohne Grund, dass es mir gesundheitlich nicht sehr gut geht. Diese Zeit geht übrigens, wenigstens in ihrer Aktualität, in den nächsten Tagen zuende und ich bleibe vielleicht, wenn die Anstalt das Zeugnis des hiesigen Arztes anerkennt, noch ein wenig hier.

    Die ersten, ich meine die ersten sichtbaren Irrtümer des Lebens sind so merkwürdig. Sie sollen ja wahrscheinlich gesondert nicht untersucht werden, da sie ja höhere und weitere Bedeutung haben, aber manchmal muß man es tun; es fällt mir ein Wettrennen ein, bei dem, wie es auch richtig ist jeder Teilnehmer überzeugt ist, dass er gewinnen wird, und das wäre auch möglich bei dem Reichtum des Lebens. Warum geschieht es nicht, trotzdem doch scheinbar jeder den Glauben hat? Weil sich der Nichtglauben nicht im "Glauben" äußert, sondern in der angewendeten "Rennmethode". So wie wenn etwa jemand fest davon überzeugt wäre, dass er gewinnen wird, aber dass er nur dadurch gewinnen wird, dass er vor der ersten Hürde ausbricht und nicht mehr zurückkehrt. Dem Schiedsrichter ist klar, dass der Mann nicht gewinnen wird, wenigstens auf dieser Ebene nicht, und es muß sehr lehrreich sein, zuzusehn, wie der Mann von allem Anfang an alles darauf anlegt auszubrechen und alles mit tiefem Ernst. - Glück zum Buch! Und viel Zeit!

Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Blau-Weiß: Zionistische Jugendorganisation nach dem Vorbild der deutschen Jugendbewegung.


in den nächsten Tagen wende: Julie Wohryzek sollte nach Prag zurückkehren.


wenn die Anstalt . . . anerkennt: Am 22. Januar 1919 hatte Kafka einen dreiwöchigen Krankheitsurlaub in Schelesen angetreten; eine vierwöchige Verlängerung wurde ihm dann am 7. Februar bewilligt; jetzt bittet er - in einem Brief an die Anstalt vom 1. März - um eine weitere Verlängerung bis Ende März, die ihm am 6. März bewilligt wird. Siehe AS 300-302.


zum Buch: Hierzu merkt Brod an: "Wahrscheinlich "Die Fälscher"" (d.i. Die Fälscher. Schauspiel in vier Akten, München: Kurt Wolff 1920). Möglicherweise handelt es sich aber um Heidentum, Christentum, Judentum (siehe 1920 Anm.17).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at