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[Stempel: Liboch (Januar 1919) ]

[An: ] Pan Dr Max Brod koncipista Poštovní ředitelství

[Abs.: ] Dr Kafka Pension Stüdl Schelesen b. Liboch


Lieber Max, letzthin habe ich von Dir geträumt, es war an und für sich kein besonderer Traum, ich habe diesen Traum öfters: ich nehme irgendein Stöckchen oder breche auch nur einen Zweig ab, stoße ihn schief gegen den Boden, setze mich auf ihn, wie die Hexen auf den Besen, oder lehne mich auch nur an ihn, wie man sich auf der Gasse an einen Spazierstock lehnt - und das genügt, dass ich in langen flachen Sprüngen weithin fliege, bergauf, bergab, wie ich will. Erschöpft sich die Flugkraft, brauche ich nur einmal wieder gegen den Boden zu stoßen und es geht wieder weiter. Das träume ich also öfters, diesmal aber warst Du irgendwie dabei, hast zugesehn oder hast auf mich gewartet, es war so als wäre es manchmal in den Rudolphinumanlagen. Und nun kam es so, dass ich immer wieder Dich irgendwie schädigen oder wenigstens in Anspruch nehmen mußte. Es waren zwar nur Kleinigkeiten, einmal verlor ich einen kleinen eisernen Stock, der Dir gehörte, und mußte es Dir gestehn, ein andermal ließ ich Dich wegen meines Fliegens lange warten, also doch nur Kleinigkeiten - aber wunderbar war es, mit welcher Güte und Geduld und Stille Du das alles hinnahmst. Entweder - mit dieser Überlegung schloß der Traum - warst Du überzeugt, dass ich es, trotzdem ich es scheinbar so leicht hatte, doch schwer hatte, oder Du hieltest wenigstens an diesem Glauben fest als der einzigen Erklärung meines sonst unbegreiflichen Verhaltens. Und so hast Du mir nicht einmal diese nächtlichen Freuden mit dem kleinsten Vorwurf gestört.

    Im ganzen geht es mir auch bei Tage nicht schlecht, wenigstens was die Lunge betrifft. Kein Fieber, keine Atemnot, immer weniger Husten. Dagegen stört mich der Magen.

    Wann fährst in die Schweiz?

    Herzliche Grüße

Franz        
 

Grüße bitte Felix und Oskar.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


in die Schweiz: Siehe 1918 Anm.92.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at