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[An Ottla Kafka]

[Stempel: Prag - 11. XI. 18]
 


Liebe Ottla mir geht es ganz erträglich, ich bin jeden Vormittag außer Bett, draußen war ich noch nicht, vielleicht heute, vielleicht morgen.

Deine Lage ist nicht leicht, das weiß ich. Hunger haben, ohne eigenes Zimmer sein, Verlangen nach Prag haben und dabei einen großen Stoff lernen sollen, das ist eine große Probe, sie überstehen ist natürlich auch groß. Die Umstände in Zürau waren für Dich und Deine Zwecke viel günstiger. Nun, in den ersten Tagen kannst Du noch keinen Überblick haben, aber bald wirst Du doch erkennen, ob Du es halbwegs achtbar leisten kannst. Sollte das Lernen oder Deine Gesundheit leiden, kommst Du natürlich zurück. Allerdings hätte dann der Vegetarianismus eine Schlacht verloren, denn die "ältern Landwirte" nähren sich im Gasthaus sicher ausgezeichnet. Übrigens gibt es ja noch eine Rettung, falls Pakete ankommen. Ich würde Dir gern regelmäßig Mehl schicken; es soll zu haben sein.

Die Friedländer Plünderungen haben hier nicht gefallen, besonders die Stilisierung der "Prager Tagblatt" Notiz nicht. Da Friedland sonst so friedlich ist und nichts ärgeres kennt, waren gleich in der Einleitung die Ausschreitungen als "furchtbar" bezeichnet. Schlimm ist jedenfalls dass man Deinen Zucker und vielleicht noch anderes fortgetragen hat und dass Du an dem Tag nicht viel gelernt hast. Die Eltern sind schon beruhigt.

Also liebe Ottla: lernen oder zurückkommen, gesundbleiben oder zurückkommen. Setzt Du es durch, werde ich Dich bewundern, kommst Du zurück, werde ich Dich trösten.

Noch eins: Überfüll die Lehrbücher nicht allzusehr mit angefangenen Briefen. Sie könnten in der Schule, wenn Du auf Deinem Platz sitzst, auf den Boden fallen, aufgehoben werden und durch die Klasse wandern.

Leb wohl

Franz

Empfiehl mich Frau Hub




mir geht es ganz erträglich: Am 14. Oktober erkrankte Kafka lebensgefährlich an der damals in ganz Europa grassierenden Spanischen Grippe; Ottla entschuldigte ihn schriftlich im Bureau. (Vgl. D 70) Sie schrieb noch am gleichen Tag an David über den Bruder: "Er ist krank, hatte zu Mittag beinahe 41 Grad Fieber. Die Mutter weinte den ganzen Tag, ich beruhigte sie, so gut ich konnte, aber ich selbst machte mir keine solchen Sorgen, ich habe immer Angst um jemanden, wenn ich weit entfernt bin, aber wenn ich bei ihm bin, habe ich immer eine gewisse Sicherheit, dass es gut wird. Der Arzt war beim Bruder, untersuchte ihn und beruhigte Mutter." Seit dem 2. November war Ottla in Friedland (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 60), am 7. dieses Monats schrieb ihr die Mutter: "Franz geht es so ziemlich, natürlich ist er noch sehr schwach und hat oft Kopfschmerzen. Heute haben wir das Schlafzimmer gelüftet und gewaschen und Franz war im Speisezimmer am Kanape, ist aber wieder gerne ins Bett gegangen."


Hunger haben: Unter dem Einfluß des Bruders war auch Ottla Vegetarierin geworden (vgl. Nr. 65 u. 80), obwohl dies wegen der Ernährungslage in der Nachkriegszeit besonders schwierig war.


Verlangen nach Prag haben: Am 6.1.1919 schrieb Ottla an David: "Glaub mir, dass mir der Gedanke, dass ich wieder in Friedland bin, dass ich auf unbestimmte Zeit von Dir getrennt bin, dass ich Dich weder morgen noch übermorgen sehen werde, so schwer war, dass ich nicht wußte, was ich mit ihm anfangen sollte." (Vgl. Nr. 68, 69 und die Zeittafel) Zu Ottlas Absichten vgl. die Anmerkungen zu Nr. 68.


die "ältern Landwirte": Vgl. Nr. 60.


Friedländer Plünderungen: Die Notiz, auf die Kafka anspielt, hat folgenden Wortlaut:

"Plünderungen in Friedland.  F r i e d 1 a n d   war Freitag der Schauplatz furchtbarer Ausschreitungen seitens einer zügellosen Menge, denen die Gendarmeriemannschaft nicht gewachsen war. Vormittags sammelte sich vor dem Geschäfte des Kaufmanns E.  H a m m e r s c h 1 a g    in der Schloßgasse eine Menge an, stürmte das Magazin und raubte den für den ganzen Bezirk Friedland reservierten Zucker, sowie ganze Säcke Salz, Marmelade, Milch in Flaschen, Mehl aus. Auch die Geschäftsbücher und die Korrespondenz wurden entwendet. Sogar die Fenster wurden weggeschleppt. Die Kasse und die anderen Geldbehälter wurden erbrochen und ihres Inhaltes beraubt. Als das Magazin geleert war, plünderte die Menge die Privatkeller. Gegen Mittag zog die Menge in die Herrengasse vor das Geschäft des Kaufmannes H a u p t , um zu plündern. Reichenberg wurde um Hilfe angerufen." (Prager Tagblatt vom 9.11.1918, Nr. 261, S. 2)


lernen oder zurückkommen: Am 14. XI. 1918 schrieb die Mutter nach Friedland: "Franz hat Dir auch einen Brief geschickt. Du hast ihn aber noch nicht beantwortet. Schreibe gleich, denn wir sind besorgt. Wenn Du nicht gut verköstigt bist, so lasse alles steh'n und liegen und komme zurück. Du wirst von uns allen gerne geseh'n. Bekommst auch wieder Dein kleines Zimmer, denn wir haben jetzt alles überstellt. Ich und der Vater schlafen in dem Zimmer neben Nowak und Franz habe ich unser früheres Schlafzimmer eingeräumt, wo es ihm sehr behaglich ist und er vollkommen Ruhe hat." Aus einem weiteren Brief Julies vom 20. XI. geht hervor, dass Ottla den Rat der Mutter sehr unwirsch aufgenommen haben muß.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at