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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla mir geht es ganz erträglich, ich bin
jeden Vormittag außer Bett, draußen war ich noch nicht, vielleicht
heute, vielleicht morgen.
Deine Lage ist nicht leicht, das weiß ich. Hunger haben,
ohne eigenes Zimmer sein, Verlangen nach Prag haben und
dabei einen großen Stoff lernen sollen, das ist eine große
Probe, sie überstehen ist natürlich auch groß. Die Umstände
in Zürau waren für Dich und Deine Zwecke viel günstiger.
Nun, in den ersten Tagen kannst Du noch keinen Überblick haben, aber
bald wirst Du doch erkennen, ob Du es halbwegs achtbar leisten kannst.
Sollte das Lernen oder Deine Gesundheit leiden, kommst Du natürlich
zurück. Allerdings hätte dann der Vegetarianismus eine Schlacht
verloren, denn die "ältern Landwirte"
nähren sich im Gasthaus sicher ausgezeichnet. Übrigens gibt es
ja noch eine Rettung, falls Pakete ankommen. Ich würde Dir gern regelmäßig
Mehl schicken; es soll zu haben sein.
Die Friedländer Plünderungen haben hier nicht
gefallen, besonders die Stilisierung der "Prager Tagblatt"
Notiz nicht. Da Friedland sonst so friedlich ist und nichts ärgeres
kennt, waren gleich in der Einleitung die Ausschreitungen als "furchtbar"
bezeichnet. Schlimm ist jedenfalls dass man Deinen Zucker und vielleicht
noch anderes fortgetragen hat und dass Du an dem Tag nicht viel gelernt
hast. Die Eltern sind schon beruhigt.
Also liebe Ottla: lernen oder zurückkommen, gesundbleiben
oder zurückkommen. Setzt Du es durch, werde ich Dich bewundern, kommst
Du zurück, werde ich Dich trösten.
Noch eins: Überfüll die Lehrbücher nicht allzusehr mit angefangenen
Briefen. Sie könnten in der Schule, wenn Du auf Deinem Platz sitzst,
auf den Boden fallen, aufgehoben werden und durch die Klasse wandern.
Leb wohl
Franz
Empfiehl mich Frau Hub
mir geht es ganz erträglich: Am 14. Oktober
erkrankte Kafka lebensgefährlich an der damals in ganz Europa grassierenden
Spanischen Grippe; Ottla entschuldigte ihn schriftlich im Bureau. (Vgl.
D 70) Sie schrieb noch am gleichen Tag an David über den Bruder: "Er
ist krank, hatte zu Mittag beinahe 41 Grad Fieber. Die Mutter weinte den
ganzen Tag, ich beruhigte sie, so gut ich konnte, aber ich selbst machte
mir keine solchen Sorgen, ich habe immer Angst um jemanden, wenn ich weit
entfernt bin, aber wenn ich bei ihm bin, habe ich immer eine gewisse Sicherheit,
dass es gut wird. Der Arzt war beim Bruder, untersuchte ihn und beruhigte
Mutter." Seit dem 2. November war Ottla in Friedland (vgl. die Anmerkungen
zu Nr. 60), am 7. dieses Monats schrieb ihr die Mutter: "Franz geht
es so ziemlich, natürlich ist er noch sehr schwach und hat oft Kopfschmerzen.
Heute haben wir das Schlafzimmer gelüftet und gewaschen und Franz
war im Speisezimmer am Kanape, ist aber wieder gerne ins Bett gegangen."
Hunger haben: Unter dem Einfluß des Bruders
war auch Ottla Vegetarierin geworden (vgl. Nr. 65 u. 80), obwohl dies wegen
der Ernährungslage in der Nachkriegszeit besonders schwierig war.
Verlangen nach Prag haben: Am 6.1.1919 schrieb Ottla
an David: "Glaub mir, dass mir der Gedanke, dass ich wieder
in Friedland bin, dass ich auf unbestimmte Zeit von Dir getrennt bin,
dass ich Dich weder morgen noch übermorgen sehen werde, so schwer
war, dass ich nicht wußte, was ich mit ihm anfangen sollte."
(Vgl. Nr. 68, 69 und die Zeittafel) Zu Ottlas Absichten vgl. die Anmerkungen
zu Nr. 68.
die "ältern Landwirte": Vgl. Nr.
60.
Friedländer Plünderungen: Die Notiz, auf
die Kafka anspielt, hat folgenden Wortlaut:
"Plünderungen in Friedland. F r i e d 1 a n d
war Freitag der Schauplatz furchtbarer Ausschreitungen seitens einer
zügellosen Menge, denen die Gendarmeriemannschaft nicht gewachsen
war. Vormittags sammelte sich vor dem Geschäfte des Kaufmanns E. H a m m e r s c h 1 a g
in der Schloßgasse eine Menge an, stürmte das Magazin
und raubte den für den ganzen Bezirk Friedland reservierten Zucker,
sowie ganze Säcke Salz, Marmelade, Milch in Flaschen, Mehl aus. Auch
die Geschäftsbücher und die Korrespondenz wurden entwendet. Sogar
die Fenster wurden weggeschleppt. Die Kasse und die anderen Geldbehälter
wurden erbrochen und ihres Inhaltes beraubt. Als das Magazin geleert war,
plünderte die Menge die Privatkeller. Gegen Mittag zog die Menge in
die Herrengasse vor das Geschäft des Kaufmannes H a u p t , um zu
plündern. Reichenberg wurde um Hilfe angerufen." (Prager Tagblatt
vom 9.11.1918, Nr. 261, S. 2)
lernen oder zurückkommen: Am 14. XI. 1918 schrieb
die Mutter nach Friedland: "Franz hat Dir auch einen Brief geschickt.
Du hast ihn aber noch nicht beantwortet. Schreibe gleich, denn wir sind
besorgt. Wenn Du nicht gut verköstigt bist, so lasse alles steh'n
und liegen und komme zurück. Du wirst von uns allen gerne geseh'n.
Bekommst auch wieder Dein kleines Zimmer, denn wir haben jetzt alles überstellt.
Ich und der Vater schlafen in dem Zimmer neben Nowak und Franz habe ich
unser früheres Schlafzimmer eingeräumt, wo es ihm sehr behaglich
ist und er vollkommen Ruhe hat." Aus einem weiteren Brief Julies
vom 20. XI. geht hervor, dass Ottla den Rat der Mutter sehr unwirsch
aufgenommen haben muß.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at