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Max Brod an Franz Kafka

[Prag]

19.3.1918
 

Lieber Franz -

Über Dresden hätte ich dir sehr viel zu sagen. So viel, dass ich den Brief immer aufschob (Aussichtslosigkeit schriftlichen Verkehrs!) und es heute schließlich für den nächsten Prager Besuch, den du doch bald machen mußt, aufhebe. - Ich hatte in Dresden drei glückliche einsame Tage, wobei Einsamkeit ohne das Pathos völliger Trennung zu verstehen ist. In solchen Tagen erwacht wieder etwas weniges von glücklicherem Liebesgefühl in mir, so dass ich der "Höhe" dieses Gefühls wenigstens nicht ganz gedemütigt gegenüberstehen mußte. - Das Wesentliche aber war das Erwachen meiner alten Energie und Besonnenheit, die sich in einem kleinen Kreis mit begrenztem Ziel sehr gut hielten. Ich mußte an meine Jugend denken, in der ich wirklich das Unmögliche durchzusetzen verstand und in vielen Dingen Mut bewies. dass ich jetzt in eine Lage geraten bin, in der es vielleicht der größere Mut ist, keinen Mut zu beweisen, - in der ich nur gegen mich selbst und nicht gegen einen äußern Feind zu kämpfen habe, - in der alles unklar ist, daher auch die Frage, wohin sich der Mut wenden soll -,das ist mein Schmerz und Unglück. - In Dresden aber konnte ich z. B. meine Musik durchsetzen, die zum Teil naturalistische Regie umschmeißen (ich kam noch knapp zur Generalprobe) und alles dies mit richtigem Erfolg und künstlerischer Echtheit. Ich bin also, wie sich zeigt, ein guter Bühnenfachmann. - Die Aufführung war außerordentlich gut, durchdacht. Alle Blätter (bis tief in die "Kreuzzeitung" hinein) sind entzückt; nein, zwei oder drei Brummstimmen geben die nötige Folie. - Seltsam war, wie dramatisch die Sache wirkte. Niemand hatte das noch auf der Generalprobe erwartet. - Und dabei freute mich kindisch, dass ich diesmal (wie zur Entschädigung für so viel Mißgeschick) wirklich Glück hatte. Die gute d.h. unübertreffliche Darstellung und ein schriller Pfiff, der zum Schluß fiel und stürmischen Beifall weckte (nur dieser Pfiff brachte es zum achtmaligen Hervorruf), ferner der Kontrast zur "Seeschlacht" u.s.f. - lauter Glücksfälle. Ich sah Gottes Gnade darin und das machte mich freudiger als die dichterischen Vorzüge u. ä., obwohl ja auch die im Grunde Gnade sind.

    Meine Eltern waren in Dresden und damit gierig geradezu ein Untergymnasiasten-Wunsch in Erfüllung: die Eltern mögen nicht sterben, ehe sie einen Bühnenerfolg von mir sehen können.

    Vom Verlag war nur ein Vertreter anwesend. Ich bat ihn u. a., dir weitere Korrekturen zu senden. Mit dem Erfolg, dass mir Wolff heute schreibt: "Von Ihrem Wunsch, die Korrektur von K. Landarzt zu lesen, habe ich Kenntnis genommen und veranlaßt, dass sie Ihnen in den nächsten Tagen übersandt wird." - Ich stelle das gleich richtig. -

    Gerade vor der Abreise erhielt ich noch deinen Brief. Und das war gut, denn ich hatte schon zu lange gewartet. Damit begann die Serie der Dresdener Glücksfälle.

    Zur Antwort: Pfemfert habe ich nicht gefragt, da ich gerade mit ihm Streit habe (wegen des "Jungen Deutschland").

    Es fällt mir eben ein, da ich von Literatur schreibe, dass ich auch in Hellerau war und einen sehr guten Abend mit Paul Adler verbrachte. Wir kamen einander näher. Kein Wunder, da ich meine starre These, das Judentum sei identisch mit Willensfreiheit, fallen lassen mußte, infolge meines Erlebnisses. Und da andrerseits Adler vom positiven Christentum so weit abgerückt ist, dass er im Begriff "Christus" nur ein (ihm allerdings notwendiges) Symbol für die sich zum Menschen herablassende Gottheit erblickt. Sagt man aber "Symbol", so ist es ja keines mehr. Und so bleibt ihm im Grunde auch nur die Verzweiflung der Endlichkeit, die ich besser verstehe als je.

    Ein vorgestriger langer Spaziergang mit Baum. Wir verstehen einander und können einander nicht helfen.

    Kierkegaard beschäftigt mich ununterbrochen. "Stadien auf dem Lebensweg" - (der Teil "Schuldig? Unschuldig?") ist außerordentlich stark und vielleicht der vollständige Schlüssel zu seiner Liebe und seinem Ich überhaupt. Ich sage: vollständig, ohne anderes zu kennen, weil ich mir einfach eine tiefere Durchdringung, eine stärkere "Durchreflektiertheit", wie er es nennt, gar nicht vorstellen kann. Auch das kleine Buch, für das ich dir danke, bestärkt mich in der Ansicht. Es enthält nichts Neues, außer Biographischem.

    Ich will dir aber ein paar Einwände mitteilen (statt aller Bewunderung). - Der erste betrifft freilich nur den Übersetzer. Solch ein Schöps!! Das Nachwort zu den "Stadien" ist skandalös und kompromittiert den ganzen Verlag Diederichs. Ich denke sogar daran, das dem Verlag zu sagen. - Erstens die "verbesserte" Übersetzung, von der eine Probe mitgeteilt wird. Es ist also tatsächlich eine Verfälschung und natürlich Verbanalisierung. - Dann aber diese Theorien des Übersetzers. - K. habe sich von der Braut getrennt, weil er ihr einen früheren sexuellen Fehltritt nicht gestehen konnte. Und dies deduziert aus einer eingestreuten Novelle, die offenbar nichts als das tertium comparationis besagen will: "Ich habe vielleicht ein Menschenleben, das Leben der Braut, auf dem Gewissen wie jener Sonderling das Leben seines hypothetischen Kindes". - Ist das nicht auch deine Ansicht? Mir scheint sie gar nicht zweifelhaft.

    Doch zu K. selbst. - Es ist ein Widerspruch, den ich nicht auf lösen kann und der alles zu stürzen droht, dass er dieses Buch veröffentlicht hat. Dieses Buch, in dem er schildert, mit welcher Sorgfalt und Skrupelhaftigkeit er seine wahren Motive vor "ihr" geheim hielt. - Und im nächsten Buchladen konnte sie sich also kaufen, was den Boden seiner ganzen Ethik ausmachte, und ihm auf diese Art das unter "Furcht und Zittern" aufgerichtete Werk (mit seiner Hilfe) zerschlagen.

    Unklar, total unklar. - Es stimmt damit auch nicht, dass Frau Schlegel tatsächlich über K. Motive, nach dem kleinen Buch zu schließen, unklar geblieben ist, bis zu seinem Tode.

    Ein anderer Einwand gegen seine Haltung betrifft den Grund der Auflösung des Verlöbnisses. Diesen Grund gibt er in den "Stadien" sehr rational an. Er war "verschlossen" und sie verstand ihn nicht. Daher Ehe unmöglich. - Gleichzeitig aber deutet er an, dass seiner "Verschlossenheit" jedes Verständnis, jedes SichAnvertrauen prinzipiell fern bleiben muß. - Denn diese Verschlossenheit ist sein Schmerz und nur durch diesen Schmerz hindurch kann er zu Gott. - Da liegt das Negative. Daß sein Gott nur ein Gott der Schmerzen ist, ein Gott der Furcht, der Schrecknisse. Seltsamerweise nennt er "judaisierend" die Ansicht, dass Gott den Menschen nur Gutes tun will. Im Allgemeinen hat man doch gerade dem jüdischen Gott seine Furchtbarkeit (Gott der Rache) zum Vorwurf gemacht. Dies nebenbei ein hübscher Beweis für meine alte Idee, dass jeder Autor das, was er nicht mag, "jüdisch" nennt. - Zum Thema zurück: K. hatte also den Weg, dass er dadurch, dass er sich Schmerzen zufügte, seines Gottes sicher wurde. Und das ist das Negative. Wie viel schwerer hat es einer, dessen Gott will, dass man lebe und Leben schaffe. Er kann seines Gottes nicht so leicht gewiß werden. Denn dieser Gott schlägt sich nur manchmal, nicht unbedingt auf die Seite, wo keine Freude, keine Sinnlichkeit lockt. Dieser positive Gott kann eventuell mit Sinnlichkeit parallel gehen und verlangt von seinem Bekenner, dass er diese parallelen Strähne zu sondern wisse. Und es ist eine besondere Gnade, dass Gott, menschliche Pflicht und Sinnlichkeit (Schechina, Thora und Mensch bilden die Dreieinigkeit nach der Kabbalah) miteinandergehen. - Bei mir steht Gott und Natur (Sinnlichkeit) auf der einen, menschliche Pflicht auf der andern Seite. Bei Kierkegaard stand Gott auf der einen Seite, menschliche Pflicht und Sinnlichkeit auf der andern. - Da ist für K. die Wahl schwer, aber nicht zweifelhaft. Voraussetzung ist freilich, dass man einen Gott hat, der prinzipiell Selbstquälerei verlangt.

    Und über diese Selbstquälerei hätte - das ist der dritte Einwand - vielleicht doch Prof. Freud ein Wort mitzureden. Seltsam ist alles, was K. über seinen Vater spricht. Er macht, ehe er sich verlobt, eine Reise in die Gegend, wo sein Vater die Jugend verbracht hat. Eine Novelle in den "Stadien" (Periander) behandelt unversöhnlichen Haß von Vater und Sohn. - Wie wenn sein Vater eine Rolle spielte wie der Vater in deinem "Urteil", der von der Braut sagt, wenn ich mich recht erinnere: "Ich fege sie dir von der Seite. - "!! Das würde natürlich nichts gegen K. schließliche Entscheidung sagen, wohl aber seine "absolute Durchreflektiertheit", auf die er sich stützt, in Frage stellen. Und nur der völlig "Durchreflektierte" gleicht an moralischer Haltbarkeit dem Naiven. Nur er darf ein Menschenleben opfern. Kierkeg. aber hätte sich dieses Recht nur angemaßt, freilich mit subjektiv gutem Gewissen, aber objektiv steht er doch schuldig da. Somit kein Beispiel! - Über all das und einiges andere schreibe mir bald!

Dein Max        


NB. Die Königsberger Aufführung ist wegen Erkrankung eines Darstellers verschoben.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Über Dresden: Brod war am 7. März zur Uraufführung seines Dramas Die Höhe des Gefühls nach Dresden gefahren.


"Seeschlacht": Reinhard Goerings Drama Seeschlacht wurde - nach dessen umstrittener Uraufführung in Dresden - unter Max Reinhardt in Berlin zum großen Erfolg.


des "Jungen Deutschland": Siehe Anm. 3 oben.


Hellerau ... Paul Adler: Zu diesem in Helferau lebenden Prager Schriftsteller (1878-1946) vgl. PK 82f.


Übersetzer . . . Nachwort: Das Nachwort schrieb Christoph Schrempf, der den Band (bis auf Kierkegaards Vorwort und die Schrift "In Vino Veritas") auch übersetzt hat. Vgl. Anm.41 oben.


Periander: Die kleine Geschichte "Periander" gehört zur Schrift ""Schuldig?"/"Nichtschuldig?"" innerhalb des Bandes Stadien auf dem Lebensweg (S. 292-296).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at