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Max Brod an Franz Kafka
[Prag]
Lieber Franz -
Über Dresden hätte ich dir sehr viel zu sagen.
So viel, dass ich den Brief immer aufschob (Aussichtslosigkeit schriftlichen
Verkehrs!) und es heute schließlich für den nächsten Prager
Besuch, den du doch bald machen mußt, aufhebe. - Ich hatte in Dresden
drei glückliche einsame Tage, wobei Einsamkeit ohne das Pathos völliger
Trennung zu verstehen ist. In solchen Tagen erwacht wieder etwas weniges
von glücklicherem Liebesgefühl in mir, so dass ich der "Höhe"
dieses Gefühls wenigstens nicht ganz gedemütigt gegenüberstehen
mußte. - Das Wesentliche aber war das Erwachen meiner alten Energie
und Besonnenheit, die sich in einem kleinen Kreis mit begrenztem Ziel sehr
gut hielten. Ich mußte an meine Jugend denken, in der ich wirklich
das Unmögliche durchzusetzen verstand und in vielen Dingen Mut bewies.
dass ich jetzt in eine Lage geraten bin, in der es vielleicht der
größere Mut ist, keinen Mut zu beweisen, - in der ich nur gegen
mich selbst und nicht gegen einen äußern Feind zu kämpfen
habe, - in der alles unklar ist, daher auch die Frage, wohin sich der Mut
wenden soll -,das ist mein Schmerz und Unglück. - In Dresden aber
konnte ich z. B. meine Musik durchsetzen, die zum Teil naturalistische
Regie umschmeißen (ich kam noch knapp zur Generalprobe) und alles
dies mit richtigem Erfolg und künstlerischer Echtheit. Ich bin also,
wie sich zeigt, ein guter Bühnenfachmann. - Die Aufführung war
außerordentlich gut, durchdacht. Alle Blätter (bis tief in die
"Kreuzzeitung" hinein) sind entzückt; nein, zwei oder
drei Brummstimmen geben die nötige Folie. - Seltsam war, wie dramatisch
die Sache wirkte. Niemand hatte das noch auf der Generalprobe erwartet.
- Und dabei freute mich kindisch, dass ich diesmal (wie zur Entschädigung
für so viel Mißgeschick) wirklich Glück hatte. Die gute
d.h. unübertreffliche Darstellung und ein schriller Pfiff, der zum
Schluß fiel und stürmischen Beifall weckte (nur dieser Pfiff
brachte es zum achtmaligen Hervorruf), ferner der Kontrast zur "Seeschlacht"
u.s.f. - lauter Glücksfälle. Ich sah Gottes Gnade darin und das
machte mich freudiger als die dichterischen Vorzüge u. ä., obwohl
ja auch die im Grunde Gnade sind.
Meine Eltern waren in Dresden und damit gierig
geradezu ein Untergymnasiasten-Wunsch in Erfüllung: die Eltern mögen
nicht sterben, ehe sie einen Bühnenerfolg von mir sehen können.
Vom Verlag war nur ein Vertreter anwesend. Ich
bat ihn u. a., dir weitere Korrekturen zu senden. Mit dem Erfolg, dass
mir Wolff heute schreibt: "Von Ihrem Wunsch, die Korrektur von K.
Landarzt zu lesen, habe ich Kenntnis genommen und veranlaßt, dass
sie Ihnen in den nächsten Tagen übersandt wird." - Ich
stelle das gleich richtig. -
Gerade vor der Abreise erhielt ich noch deinen
Brief. Und das war gut, denn ich hatte schon zu lange gewartet. Damit begann
die Serie der Dresdener Glücksfälle.
Zur Antwort: Pfemfert habe ich nicht gefragt, da
ich gerade mit ihm Streit habe (wegen des "Jungen
Deutschland").
Es fällt mir eben ein, da ich von Literatur
schreibe, dass ich auch in Hellerau war und einen sehr
guten Abend mit Paul Adler verbrachte. Wir kamen einander näher. Kein
Wunder, da ich meine starre These, das Judentum sei identisch mit Willensfreiheit,
fallen lassen mußte, infolge meines Erlebnisses. Und da andrerseits
Adler vom positiven Christentum so weit abgerückt ist,
dass er im Begriff "Christus" nur ein (ihm allerdings
notwendiges) Symbol für die sich zum Menschen herablassende Gottheit
erblickt. Sagt man aber "Symbol", so ist es ja keines mehr.
Und so bleibt ihm im Grunde auch nur die Verzweiflung der Endlichkeit,
die ich besser verstehe als je.
Ein vorgestriger langer Spaziergang mit Baum. Wir
verstehen einander und können einander nicht helfen.
Kierkegaard beschäftigt mich ununterbrochen.
"Stadien auf dem Lebensweg" - (der Teil "Schuldig? Unschuldig?")
ist außerordentlich stark und vielleicht der vollständige Schlüssel
zu seiner Liebe und seinem Ich überhaupt. Ich sage: vollständig,
ohne anderes zu kennen, weil ich mir einfach eine tiefere Durchdringung,
eine stärkere "Durchreflektiertheit", wie er es nennt,
gar nicht vorstellen kann. Auch das kleine Buch, für das ich dir danke,
bestärkt mich in der Ansicht. Es enthält nichts Neues, außer
Biographischem.
Ich will dir aber ein paar Einwände mitteilen
(statt aller Bewunderung). - Der erste betrifft freilich nur den Übersetzer.
Solch ein Schöps!! Das Nachwort zu den "Stadien" ist
skandalös und kompromittiert den ganzen Verlag Diederichs. Ich denke
sogar daran, das dem Verlag zu sagen. - Erstens die "verbesserte"
Übersetzung, von der eine Probe mitgeteilt wird. Es ist also tatsächlich
eine Verfälschung und natürlich Verbanalisierung. - Dann aber
diese Theorien des Übersetzers. - K. habe sich von der Braut getrennt,
weil er ihr einen früheren sexuellen Fehltritt nicht gestehen konnte.
Und dies deduziert aus einer eingestreuten Novelle, die offenbar nichts
als das tertium comparationis besagen will: "Ich habe vielleicht
ein Menschenleben, das Leben der Braut, auf dem Gewissen wie jener Sonderling
das Leben seines hypothetischen Kindes". - Ist das nicht auch deine
Ansicht? Mir scheint sie gar nicht zweifelhaft.
Doch zu K. selbst. - Es ist ein Widerspruch, den
ich nicht auf lösen kann und der alles zu stürzen droht, dass
er dieses Buch veröffentlicht hat. Dieses Buch, in dem er schildert,
mit welcher Sorgfalt und Skrupelhaftigkeit er seine wahren Motive vor "ihr"
geheim hielt. - Und im nächsten Buchladen konnte sie sich also kaufen,
was den Boden seiner ganzen Ethik ausmachte, und ihm auf diese Art das
unter "Furcht und Zittern" aufgerichtete Werk (mit seiner Hilfe)
zerschlagen.
Unklar, total unklar. - Es stimmt damit auch nicht,
dass Frau Schlegel tatsächlich über K. Motive, nach dem
kleinen Buch zu schließen, unklar geblieben ist, bis zu seinem Tode.
Ein anderer Einwand gegen seine Haltung betrifft
den Grund der Auflösung des Verlöbnisses. Diesen Grund gibt er
in den "Stadien" sehr rational an. Er war "verschlossen"
und sie verstand ihn nicht. Daher Ehe unmöglich. - Gleichzeitig aber
deutet er an, dass seiner "Verschlossenheit" jedes Verständnis,
jedes SichAnvertrauen prinzipiell fern bleiben muß. - Denn diese
Verschlossenheit ist sein Schmerz und nur durch diesen Schmerz hindurch
kann er zu Gott. - Da liegt das Negative. Daß sein Gott nur ein Gott
der Schmerzen ist, ein Gott der Furcht, der Schrecknisse. Seltsamerweise
nennt er "judaisierend" die Ansicht, dass Gott den Menschen
nur Gutes tun will. Im Allgemeinen hat man doch gerade dem jüdischen
Gott seine Furchtbarkeit (Gott der Rache) zum Vorwurf gemacht. Dies nebenbei
ein hübscher Beweis für meine alte Idee, dass jeder Autor
das, was er nicht mag, "jüdisch" nennt. - Zum Thema zurück:
K. hatte also den Weg, dass er dadurch, dass er sich Schmerzen
zufügte, seines Gottes sicher wurde. Und das ist das Negative. Wie
viel schwerer hat es einer, dessen Gott will, dass man lebe und Leben
schaffe. Er kann seines Gottes nicht so leicht gewiß werden. Denn
dieser Gott schlägt sich nur manchmal, nicht unbedingt auf die Seite,
wo keine Freude, keine Sinnlichkeit lockt. Dieser positive Gott kann eventuell
mit Sinnlichkeit parallel gehen und verlangt von seinem Bekenner, dass
er diese parallelen Strähne zu sondern wisse. Und es ist eine besondere
Gnade, dass Gott, menschliche Pflicht und Sinnlichkeit (Schechina,
Thora und Mensch bilden die Dreieinigkeit nach der Kabbalah) miteinandergehen.
- Bei mir steht Gott und Natur (Sinnlichkeit) auf der einen, menschliche
Pflicht auf der andern Seite. Bei Kierkegaard stand Gott auf der einen
Seite, menschliche Pflicht und Sinnlichkeit auf der andern. - Da ist für
K. die Wahl schwer, aber nicht zweifelhaft. Voraussetzung ist freilich,
dass man einen Gott hat, der prinzipiell Selbstquälerei verlangt.
Und über diese Selbstquälerei hätte
- das ist der dritte Einwand - vielleicht doch Prof. Freud ein Wort mitzureden.
Seltsam ist alles, was K. über seinen Vater spricht. Er macht, ehe
er sich verlobt, eine Reise in die Gegend, wo sein Vater die Jugend verbracht
hat. Eine Novelle in den "Stadien" (Periander)
behandelt unversöhnlichen Haß von Vater und Sohn. - Wie wenn
sein Vater eine Rolle spielte wie der Vater in deinem "Urteil",
der von der Braut sagt, wenn ich mich recht erinnere: "Ich fege sie
dir von der Seite. - "!! Das würde natürlich nichts gegen
K. schließliche Entscheidung sagen, wohl aber seine "absolute
Durchreflektiertheit", auf die er sich stützt, in Frage stellen.
Und nur der völlig "Durchreflektierte" gleicht an moralischer
Haltbarkeit dem Naiven. Nur er darf ein Menschenleben opfern. Kierkeg.
aber hätte sich dieses Recht nur angemaßt, freilich mit subjektiv
gutem Gewissen, aber objektiv steht er doch schuldig da. Somit kein Beispiel!
- Über all das und einiges andere schreibe mir bald!
Dein Max
NB. Die Königsberger Aufführung ist wegen Erkrankung eines Darstellers
verschoben.
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Über Dresden: Brod war am 7. März zur Uraufführung seines Dramas Die Höhe des Gefühls nach Dresden gefahren.
"Seeschlacht": Reinhard Goerings Drama Seeschlacht wurde - nach dessen umstrittener Uraufführung in Dresden - unter Max Reinhardt in Berlin zum großen Erfolg.
des "Jungen Deutschland": Siehe Anm. 3 oben.
Hellerau ... Paul Adler: Zu diesem in Helferau lebenden Prager Schriftsteller (1878-1946) vgl. PK 82f.
Übersetzer . . . Nachwort: Das Nachwort schrieb Christoph Schrempf, der den Band (bis auf Kierkegaards Vorwort und die Schrift "In Vino Veritas") auch übersetzt hat. Vgl. Anm.41 oben.
Periander: Die kleine Geschichte "Periander" gehört zur Schrift ""Schuldig?"/"Nichtschuldig?"" innerhalb des Bandes Stadien auf dem Lebensweg (S. 292-296).
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |