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[Prag]

16.1.[1918]
 

Lieber Franz Mit Oskar komme ich erst morgen zusammen. Es wäre mir sehr interessant, wenn du mir ausführlicher über ihn schriebst. Worin habe ich ihn richtig erkannt und worin, wie du andeutest, verkannt? -Die Ehe etwa? - Ich schlage alles über einen Leisten.

    Wie ist dein Befinden? In Prag hat es mir zuletzt gar nicht mehr gefallen. Du hast sehr stark gehustet. Und jetzt? Wie ist das Gewicht, der Schlaf, Atem?

    Tablettes kannst du natürlich an Felice senden.

    Die beiden Novellen lasse ich abklopfen und sende sie dir dann. Es wäre mir doch lieb gewesen, wenn du noch eine hinzugefügt hättest (dieser Ruf, der an den Lauschenden ergeht!), um die ich dich besonders bat. - Auch war ich sehr bös, dass du den "Prozeß" nicht mitsandtest, auf den ich mich so gefreut hatte. - Es geht mir so schlecht, dass meine Freunde nicht das Recht haben, mir etwas zu verweigern, worum ich sie bitte. Ja, ich mache allen Ernstes von diesem "Armenrecht" Gebrauch! Auch dir und vor allem dir gegenüber!

    Somit wären wir schon im Thema deines letzten Briefes.

    Lieber Franz, ich glaube nicht, dass du meine Situation richtig siehst. Ich glaube, du siehst sie gewissermaßen zu "ideologisch", zu kompliziert in der Wurzel. Ihr Kompliziertes liegt aber gerade in der relativen Einfachheit der Wurzel und in dem Wust, der dann darauf folgt, - unentwirrbar.

    Meine Angelegenheit ist nicht, dass ich um der Literatur willen diese Frau gewählt und jetzt um Palästinas willen eine andere brauche. - Viel einfacher! Viel körperlicher! - Es ist in einer der allerdings vielen möglichen Vereinfachungen so: Meine Frau ist nicht mein erotischer Typus. Im Geistigen nicht, denn da ist sie die geführte anlehnungsbedürftige Frau, während ich der Führerin bedarf. Und im Körperlichen erst recht nicht. Das Körperliche hängt überdies als allzu Zartes, allzu Gebrechliches irgendwie mit dem Seelischen zusammen. - Ich habe diese Frau gewählt, weil ich damals

1.) meinen erotischen Typ noch nicht so klar ausgebildet hatte, weil ich wahlloser war

2.) zum Teil mit bewußter Lüge, aus Hochmut -

3.) weil gewisse an sich sehr hohe, aber doch sekundäre Eigenschaften mich an sie fesselten und noch heute mit so unerhörter Wucht fesseln, dass ich nie und nimmer mich losreißen kann. Folge hievon ist ein ausschweifendes sexuelles Leben, das mich unendlich peinigt, unruhig macht und mir einen Aufstieg über die heute erreichte Stufe hinaus einfach verwehrt. - Ich weiß, dass ich jetzt nur dann weiterkommen kann, wenn ich endlich im Eros Ruhe, völligen Frieden finde, wozu auch Kinder gehören, - und ich weiß, dass die andere alles das hat, was ich dazu brauche und seit jeher in Wunschgestalten geformt habe, zum Teil sogar (Olga), ehe ich "Esther" kannte. Also antizipierend die überwältigende Wirklichkeit dieses Erlebnisses.

    Palästina ist, wie du siehst, durchaus Nebensache. Weiterkorn-. men, Höherkommen ist alles, - wobei dann, soweit ich es mit heutigem stumpfem Blick sehe, auch Palästina eine Rolle spielen müßte, - noch unsicher, welche. - Ich habe mich ernstlich geprüft und glaube, dass ich näher an Gott nicht herankommen kann, solange ich in den heutigen erotischen Kleinreizen verharre. Und völlige Entsagung scheint mir auch nicht mein Weg zu sein.

    Unmöglichkeit aber ist es, von meiner Frau wegzugehen. -Das ist der Punkt, wo du mich nicht verstehen kannst. Denn ich habe (was kein Vorzug ist) ein weicheres Herz als du. Ich bringe nicht die geringste Grausamkeit auf, die in diesem Fall vielleicht höhere Güte wäre. Ich muß, so oft ich einen Schritt von meiner Frau wegtue, nach einigen Tagen diesen Schritt zu ihr zurückmachen, weil sie so hilflos ist und weil es so leicht wäre, sie mit einiger Geschicklichkeit, ihr Vertrauen ausnützend, zum Einverständnis zu bewegen. Ich bin anständig, wenn ich ihr die Wahrheit sage, wie es steht, - nur ist leider in meinen Augen diese Anständigkeit die denkbar größte Gemeinheit, deren ein Mensch fähig ist.

    Ich sprach Sonntag mit Werfel, der auf Durchreise in die Schweiz mich besuchte. Er scheint in sehr analoger Lage. Erstaunlich, wie leicht er sich es macht. Wo ist die conscientia scrupulosa seiner Gedichte? - Er sagte etwa: "Alle Liebe ist endlich, das weiß ich. Wenn die Verwesung der Liebe eintritt, muß man gehen. Es ist schwer. Doch ist es höhere Güte. Und dann ist da noch zum Glück der andere Teil. Der muß es doch merken, dass Verwesung da ist. Merkt er es nicht, so reizt er mich zum Zorn und ich entscheide mich umso leichter. Im Übrigen ist das eben Leben und eine gewisse Freude bleibt dabei. Nur leere Tage sind unerträglich u.s.f."

    Es war doch sehr unreif, was er sagte, - doch freilich wäre gewiß Tieferes herausgekommen, wenn wir mehr als eine flüchtige halbe Stunde Zeit gehabt hätten.

    Ich lese jetzt Gerhard Hauptmanns "Versunkene Glocke". War immer eines meiner liebsten Werke. Seltsam, dass wir nie davon geredet haben. Ich weiß gar nicht, wie du zu Hauptmann stehst. - Nun, heute sehe ich in diesem Drama mein Schicksal recht genau. - Im Tal Frau und Pflicht, auf den Bergen der erotische Typ (der freilich bei dem breitschultrigen Hauptmann ungefähr das Gegenteil meines Typs ist, - infantil, unentwickelt, bizarr kurz das, was ihm fehlt - die Frau im Tal aber hat er erzogen und gebildet wie eine seiner Glocken). Und Meister Heinrich zwischen den zwei Frauen, die er beide ruiniert, selbst untergehend. So wird es auch bei mir endigen, wenn nicht ein Wunder geschieht.

    Dieses Wunder aber hat fast unmögliche Voraussetzungen: meine Frau müßte, ohne die sekundär-geistigen Beziehungen zu mir zu lösen, selbst ihr Glück in einer anderen Liebe finden. - Es kann nicht sein. Und ich warte daher im Grunde gar nicht nach dieser Richtung hin.

    Vorläufig habe ich ja noch die Tage mit allerlei Aufräumungsarbeiten hinter dem Roman her angefüllt. -Nebenbei: es wäre mir lieb, wenn du mir noch etwas über den Roman schriebst. Ich habe übrigens gegen Schluß zu noch ziemlich viel geändert und einen glücklichen Tag mit diesen Änderungen gehabt.

    Fabelhaft schön war die Sonntagszeitung (12.Jänner). Trotzkis Brief, von Pichon zitiert, frontmachend gegen die falschen Sozialisten Frankreichs und derselbe Trotzki im Kampf mit dem (laut "Woche") Schweinsgesicht General Hoffmann. Die feine Wendung: "Wir pfeifen auf die Gegenseitigkeit der Nichteinmischung". - Ja, es gibt noch Juden, und wenn ich die Fahne fallen lasse, so werden andere sie tragen.Max



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Die beiden Novellen: Siehe Anm.3 oben.


noch eine . . . Lauschenden ergeht: "Eine kaiserliche Botschaft".


Olga: Figur aus Brods Roman Jüdinnen.


Sonntagszeitung . . . Trotzkis Brief: Laut dem französischen Außen- minister Pichon war dieser Brief Trotzlos (der eben eine internationale Arbeiterkonferenz in Rußland bewerkstelligen wollte) "voll von Beleidigungen gegen die hervorragendsten Mitglieder der französischen Sozialistenpartei . . . und voll Verachtung und Geringschätzung für die Sozialisten von der Farbe Kerenskis" (Bohemia, Sonntag 13.1.1918, Morgenausgabe, S. 3).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at