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[Tagebuch, 19. September 1917; Mittwoch]

19. (September 1917) Statt Telegramm: "Sehr willkommen Station Michelob Befinden ausgezeichnet Franz Ottla" welches Marenka zweimal nach Flöhau trug ohne es angeblich aufgeben zu können, weil das Postamt kurz vor ihrer Ankunft geschlossen worden war, habe ich einen Abschiedsbrief geschrieben und schon wieder stark beginnende Qualen mit einem Mal unterdrückt. Abschiedsbrief allerdings mehrdeutig, wie meine Meinung

Es ist das Alter der Wunde, mehr als ihre Tiefe und Wucherung, das ihre Schmerzhaftigkeit ausmacht. Immer wieder im gleichen Wundkanal aufgerissen werden, die zahllos operierte Wunde wieder in Behandlung genommen sehn, das ist das Arge.

Das zerbrechliche launische nichtige Wesen - ein Telegramm wirfts hin, ein Brief richtet es auf, belebt es, die Stille nach dem Brief macht es stumpf

Das Spiel der Katze mit den Ziegen. Die Ziegen sind ähnlich: polnischen Juden, Onkel Siegfried, Ernst Weiß, Irma

Verschiedenartige aber ähnlich strenge Unzugänglichkeit des Schaffers Hermann (der heute ohne Nachtmahl und Gruß weggegangen ist; die Frage ist, ob er morgen kommt) des Fräuleins, der Marenka. Im Grunde ihnen gegenüber beengt, wie vor den Tieren im Stall, wenn man sie zu etwas auffordert und sie erstaunlicher Weise folgen. Der Fall ist hier nur deshalb schwieriger, weil sie augenblicksweise so oft zugänglich und ganz verständlich scheinen.

Mir immer unbegreiflich, dass es jedem fast, der schreiben kann, möglich ist, im Schmerz den Schmerz zu objektivieren, so dass ich z. B. im Unglück, vielleicht noch mit dem brennenden Unglückskopf mich setzen und jemandem schriftlich mitteilen kann: Ich bin unglücklich. Ja, ich kann noch darüber hinausgehn und in verschiedenen Schnörkeln je nach Begabung, die mit dem Unglück nichts zu tun zu haben scheint, darüber einfach oder antithetisch oder mit ganzen Orchestern von Associationen phantasieren. Und es ist gar nicht Lüge und stillt den Schmerz nicht, ist einfach gnadenweiser Überschuß der Kräfte in einem Augenblick, in dem der Schmerz doch sichtbar alle meine Kräfte bis zum Boden meines Wesens, den er aufkratzt, verbraucht hat. Was für ein Überschuß ist es also

Gestriger Brief an Max. Lügnerisch, eitel, komödiantisch.

Eine Woche in Zürau.

Im Frieden kommst Du nicht vorwärts, im Krieg verblutest Du.

Traum von Werfel: Er erzählte, er habe in Niederösterreich wo er sich jetzt aufhält, zufällig auf der Gasse einen Mann ein wenig gestoßen, worauf dieser ihn schauerlich ausschimpfte. Die einzelnen Worte habe ich vergessen, ich weiß nur, dass "Barbare" drin vorkam (vom Weltkrieg her) und dass es endete mit "Sie proletarischer Turch." Eine interessante Bildung: Turch Dialektwort für Türke, "Türke" Schimpfwort offenbar noch aus der Tradition der alten Türken-Kriege und Wien-Belagerungen und zu dem das neue Schimpfwort "proletarisch". Charakterisiert gut die Einfältigkeit und Rückständigkeit des Schimpfers, da heute weder "proletarisch" noch "Türke" eigentliche Schimpfwörter sind.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at