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An Ottla Kafka]

[Stempel: Prag - 30. XII. 17]
 


Liebe Ottla, jetzt am Sonntag-Nachmittag in der Küche noch paar Worte wegen Baum:

Nicht etwa zur Verhinderung seiner Reise; die wäre jetzt ohne Kränkung nicht mehr möglich und das kleine Opfer, das ich damit bringe und das ja natürlich durchaus nicht nur Opfer ist, ist ja, selbst wenn ich rechnen wollte, so geringfügig gegenüber dem Guten das mir die letzte Zeit gebracht hat. Also nicht um die Reise zu verhindern will ich noch etwas sagen, sondern um, brüderlich, ein Unbehagen mit Dir zu teilen:

Gestern war wieder einmal großer wenn auch kurz dauernder Lärm am Abend. Die alten Dinge: (in Übergang von der rodelnden Martha, der Mandolinenspielerin Trude und dem mit 2 elenden Beinen seit Wochen krankliegenden Onkel) Zürau; die Verrückte, Verlassen der armen Eltern; was für eine Arbeit ist dort jetzt?; leicht auf dem Land sein, wenn man alles in Hülle und Fülle bekommt; hungern aber sollte sie einmal und wirkliche Sorgen haben u.s.w. Es wurde, um es nicht zu vergessen, auch Gutes (gegen mich Eifersüchtiges) über Dich gesagt: ein Mädel von Eisen udgl. Das alles zielte natürlich indirekt auf mich, stellenweise wurde es geradezu zugestanden, ich hätte ja dieses Abnormale unterstützt oder verschuldet u.s.w. (worauf ich nicht schlecht oder wenigstens verblüffend damit geantwortet habe, das Abnormale sei nicht das schlechteste, denn normal sei z. B. der Weltkrieg) - Heute morgen kam dann die Mutter zu mir (die irgendeine Grundsoge zu haben scheint, die, soweit ich es aus ihrem Verhalten beurteilen kann, nicht mich betrifft; sie ißt, wie das Fräulein sagt, seit 14 Tagen wenig; ich finde sie aber nicht besonders schlecht aussehend) fragte mich, was es noch für Arbeit draußen gibt, warum Du nicht kommst, (die Schwiegervaterfamilie Roberts kommt jetzt für ¼ Jahr nach Prag) und wenn Du nicht kommst, warum 2 Mädchen dort nötig sind, ob das nicht zuviel kostet u.s.f. Ich antwortete so gut ich konnte.

Als Ergebnis dieser Gespräche zeigte sich jetzt meinen etwas reiner gewaschenen Augen, dass Du oder ich gegenüber diesen Sorgen und Vorwürfen fast völlig im Recht sind, im Recht, soweit wir unsere Eltern "verlassen" haben, soweit wir "verrückt" sind. Denn wir haben sie weder verlassen noch sind wir undankbar oder verrückt, sondern haben nur mit genügend anständigen Absichten das getan, was wir für notwendig hielten und was niemand (etwa um uns zu entlasten) für uns herausfinden könnte. Nur eine wirkliche Berechtigung zum Vorwurf hat der Vater, nämlich darin, dass wir es (gleichgültig ob durch sein Verdienst oder seine Schuld) zu leicht haben; er kennt keine andere Erprobung, als die des Hungers, der Geldsorgen und vielleicht noch der Krankheit, erkennt, dass wir die ersteren, die zweifellos stark sind, noch nicht bestanden haben und leitet daraus das Recht ab, jedes freie Wort uns zu verbieten. Darin liegt Wahres und, weil es wahr ist, auch Gutes. Solange wir nicht auf seine Hilfe bei Vertreibung des Hungers und der Geldsorgen verzichten können, bleibt in unserem Verhalten ihm gegenüber eine Befangenheit und wir müssen uns ihm irgendwie fügen selbst wenn wir es äußerlich nicht tun. Hier spricht aus mir mehr als nur der Vater, mehr als der bloß nichtliebende Vater.

Auf Oskars Besuch angewendet, heißt das:

Wir laden Oskar in eine fremde Wirtschaft, wo ich selbst nur geduldeter Gast bin. Der Vater würde natürlich damit nie übereinstimmen. Nun füge ich mich äußerlich nicht, bleibe draußen, nehme auch Oskar mit, zahle für mich, zahle mit Freude auch für Oskar die Geringfügigkeit, bleibe aber unter der Drohung des Vaters, der das Am-Dorfleben, die Dorf-Winterarbeit u.s.w. nicht versteht, doch so befangen, dass ich z. B. vor Karl, der Anfang Jänner kommen dürfte, sehr verlegen mit Oskar am Arm stehen werde.

Das muß ich überwinden, da ich vorläufig das Größere nicht überwinden kann. Das wollte ich Dir also sagen.

Ich werde wegen der Anstalt noch paar Tage länger hier bleiben müssen, da ich mit dem Direktor zum erstenmal Dienstag werde sprechen können.

Ein Wort zu diesem Brief hätte ich noch gern, es dürfte mich noch in Prag erreichen.

Grüße das Fräulein, Toni, Hermann.

Franz


Der Brief war schon im Kouvert, da habe ich die Mutter nach ihren Sorgen gefragt.

Ich bin also doch die Sorge, der Vater war so rücksichtslos ihr alles zu sagen.




Martha: vielleicht die hübsche, elegante, rücksichtsvolle und bescheidene Cousine Kafkas, die F 244 und 249 erwähnt ist.


Robert: Dr. Robert Kafka, Advokat, ein in Prag lebender Vetter des Dichters (Sohn Filip Kafkas aus Kolin), der schon Jahre vor Kafka an einer Milzerkrankung starb (vgl. FK 180 und Br 403).


ihr alles zu sagen: Kafka hatte den wahren Grund seiner Beurlaubung zunächst vor den Eltern geheimgehalten. (Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 49) Am 22. November wurde zunächst der Vater aufgeklärt. Ottla schrieb am 23. XI. 1917 an David aus Prag: "Vater ist so gut zu mir, hat sich so schön an alles gewöhnt, dass ich fürchten muß, dass ich das alles nicht ganz verdiene. Ich sagte ihm gestern gleich nach meiner Ankunft in einem Augenblick, als Mutter in der Küche war, warum der Bruder den Urlaub bekam. Ich dachte mir, dass Vater, weil er die Ursache nicht wußte, sich nach einiger Zeit ärgern würde, dass Franz so lange Zeit müßiggeht. Ich habe mir aber nicht vorgestellt, dass diese Nachricht auf ihn einen solchen Eindruck machen könnte. Er hat Sorgen und ich muß sie ihm ständig ausreden und ihm versichern, dass der Bruder in Zürau alles hat, was er braucht und dass für ihn keine Gefahr besteht."


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at