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An Felix Weltsch
Lieber Felix, der erste große Fehler von Zürau: eine Mäusenacht,
ein schreckliches Erlebnis. Ich selbst bin ja unangetastet und mein Haar
ist nicht weißer als gestern, aber es war doch das Grauen der Welt.
Schon früher hatte ich es hie und da (ich muß jeden Augenblick
das Schreiben unterbrechen, Du wirst den Grund noch erfahren), hie und
da in der Nacht zart knabbern gehört, einmal war ich sogar zitternd
aufgestanden und habe nachgesehn, es hörte dann gleich auf - diesmal
aber war es ein Aufruhr. Was für ein schreckliches stummes lärmendes
Volk das ist. Um zwei Uhr wurde ich durch ein Rascheln bei meinem Bett
geweckt und von da an hörte es nicht auf bis zum Morgen. Auf die Kohlenkiste
hinauf, von der Kohlenkiste hinunter, die Diagonale des Zimmers abgelaufen,
Kreise gezogen, am Holz genagt, im Ruhen leise gepfiffen und dabei immer
das Gefühl der Stille, der heimlichen Arbeit eines gedrückten
proletarischen Volkes, dem die Nacht gehört. Um mich gedanklich zu
retten, lokalisierte ich den Hauptlärm beim Ofen, den die Länge
des Zimmers von mir trennt, aber es war überall, am schlimmsten, wenn
einmal ein ganzer Haufen irgendwo gemeinsam hinuntersprang. Ich war gänzlich
hilflos, nirgends in meinem ganzen Wesen ein Halt, aufstehn, anzünden
wagte ich nicht, das Einzige waren einige Schreie, mit denen ich sie einzuschüchtern
versuchte. So verging die Nacht, am Morgen konnte ich vor Ekel und Traurigkeit
nicht aufstehn, blieb bis 1 Uhr im Bett und spannte das Gehör, um
zu hören, was eine Unermüdliche den ganzen Vormittag über
im Kasten zum Abschluß dieser Nacht oder zur Vorbereitung der nächsten
arbeitete. Jetzt habe ich die Katze, die ich im Geheimen seit jeher hasse,
in mein Zimmer genommen, oft muß ich sie verjagen, wenn sie auf meinen
Schoß springen will (Schreibunterbrechung); verunreinigt sie sich,
muß ich das Mädchen aus dem Erdgeschoß holen; ist sie
brav (die Katze), liegt sie beim Ofen, und beim Fenster kratzt unzweideutig
eine vorzeitig erwachte Maus. Alles ist mir heute verdorben, selbst der
gute dumpfe Geruch und Geschmack des Hausbrotes ist mäusig.
Im übrigen war ich schon unsicher, als ich gestern abend zu Bett ging.
Ich hatte Dir schreiben wollen, auch zwei Seiten zweier Briefe geschrieben,
aber es gelang nicht, ich kam nicht bis zum Ernst der Sache vor. Vielleicht
auch deshalb, weil Du im Anfang Deines Briefes so unernst von Dir sprichst,
Dich verlachst, wo unmöglich etwas zum Verlachen sein kann. Mit dem
Gewissensleichtsinn, den Du vorgeblich hast, wärest Du gewiß
nicht so alt geworden, ich meine: unter sonst gleichen Umständen.
Es kann also nicht so sein, dass neben dem "felsenfesten Glauben"
die "leichtsinnigen Theorien" stehn, die ihn doch im Grunde
beseitigen, und neben diesen der " Denkzipfel", der wieder
sie beseitigt, so dass schließlich nur der "Denkzipfel"
übrigbleibt oder vielmehr auch er nicht, denn aus sich heraus kann
er sich allein nicht schwenken. So wärest Du also glücklich ganz
beseitigt, glücklicher Weise bist Du aber doch vorhanden und das ist
das Schöne. Darüber aber müßtest Du Dich wundern,
es als geistige Leistung bewundern, also mit Max und mir einig sein.
Auch sonst hast Du nicht eigentlich recht. (Wunderbar, sie wittert etwas
und wagt sich im Sprung in das Dunkel hinter dem Kasten! Jetzt sitzt sie
beim Kasten und wacht. Wie mir leichter wird!) Glaube einem Rattenhöhlenbesitzer,
dass Deine Wohnung üppig ist, und es stört (abgesehen von
anderem, das Dich eben bewundernswerter Weise nicht stört) dadurch,
dass das "räumliche Zuviel" das "zeitliche
Zuwenig" bewirkt. Deine Zeit liegt eben z. B, als Teppich im Vorzimmer.
Mag sie dort liegen, sie ist schön als Teppich und gut als Hausfrieden,
aber die künftige Zeit soll anverwandelt bleiben, für Dich und
alle.
Meine Frage nach der Ethik war, wie ich jetzt sehe, eigentlich eine Bitte
nach schriftlichen Vorlesungen, die ich als Ungeheuerlichkeit zurücknehme.
Allerdings weiß ich dann mit Deiner Bemerkung über Glaube und
Gnade und das Auseinandergehn mit Max oder gar mir nichts anzufangen.
Meine Gesundheit ist recht gut, vorausgesetzt, dass die Mäusefurcht
der Tuberkulose nicht zuvor kommt.
Noch eine interessante Einzelheit aus dem militärischen Programm der
Mittelmächte für 1918: Meiner Enthebung ist als Endtermin der
I. I. 1918 gegeben. Hier ist Hindenburg einmal zu spät gekommen.
Herzliche Grüße Dir und Deiner Frau (bei der ich ja seit der
Taschengeschichte leider nichts mehr zu verlieren habe).
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at