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An Felix Weltsch

[Zürau, Mitte November 1917]
 

Lieber Felix, der erste große Fehler von Zürau: eine Mäusenacht, ein schreckliches Erlebnis. Ich selbst bin ja unangetastet und mein Haar ist nicht weißer als gestern, aber es war doch das Grauen der Welt. Schon früher hatte ich es hie und da (ich muß jeden Augenblick das Schreiben unterbrechen, Du wirst den Grund noch erfahren), hie und da in der Nacht zart knabbern gehört, einmal war ich sogar zitternd aufgestanden und habe nachgesehn, es hörte dann gleich auf - diesmal aber war es ein Aufruhr. Was für ein schreckliches stummes lärmendes Volk das ist. Um zwei Uhr wurde ich durch ein Rascheln bei meinem Bett geweckt und von da an hörte es nicht auf bis zum Morgen. Auf die Kohlenkiste hinauf, von der Kohlenkiste hinunter, die Diagonale des Zimmers abgelaufen, Kreise gezogen, am Holz genagt, im Ruhen leise gepfiffen und dabei immer das Gefühl der Stille, der heimlichen Arbeit eines gedrückten proletarischen Volkes, dem die Nacht gehört. Um mich gedanklich zu retten, lokalisierte ich den Hauptlärm beim Ofen, den die Länge des Zimmers von mir trennt, aber es war überall, am schlimmsten, wenn einmal ein ganzer Haufen irgendwo gemeinsam hinuntersprang. Ich war gänzlich hilflos, nirgends in meinem ganzen Wesen ein Halt, aufstehn, anzünden wagte ich nicht, das Einzige waren einige Schreie, mit denen ich sie einzuschüchtern versuchte. So verging die Nacht, am Morgen konnte ich vor Ekel und Traurigkeit nicht aufstehn, blieb bis 1 Uhr im Bett und spannte das Gehör, um zu hören, was eine Unermüdliche den ganzen Vormittag über im Kasten zum Abschluß dieser Nacht oder zur Vorbereitung der nächsten arbeitete. Jetzt habe ich die Katze, die ich im Geheimen seit jeher hasse, in mein Zimmer genommen, oft muß ich sie verjagen, wenn sie auf meinen Schoß springen will (Schreibunterbrechung); verunreinigt sie sich, muß ich das Mädchen aus dem Erdgeschoß holen; ist sie brav (die Katze), liegt sie beim Ofen, und beim Fenster kratzt unzweideutig eine vorzeitig erwachte Maus. Alles ist mir heute verdorben, selbst der gute dumpfe Geruch und Geschmack des Hausbrotes ist mäusig.

Im übrigen war ich schon unsicher, als ich gestern abend zu Bett ging. Ich hatte Dir schreiben wollen, auch zwei Seiten zweier Briefe geschrieben, aber es gelang nicht, ich kam nicht bis zum Ernst der Sache vor. Vielleicht auch deshalb, weil Du im Anfang Deines Briefes so unernst von Dir sprichst, Dich verlachst, wo unmöglich etwas zum Verlachen sein kann. Mit dem Gewissensleichtsinn, den Du vorgeblich hast, wärest Du gewiß nicht so alt geworden, ich meine: unter sonst gleichen Umständen. Es kann also nicht so sein, dass neben dem "felsenfesten Glauben" die "leichtsinnigen Theorien" stehn, die ihn doch im Grunde beseitigen, und neben diesen der " Denkzipfel", der wieder sie beseitigt, so dass schließlich nur der "Denkzipfel" übrigbleibt oder vielmehr auch er nicht, denn aus sich heraus kann er sich allein nicht schwenken. So wärest Du also glücklich ganz beseitigt, glücklicher Weise bist Du aber doch vorhanden und das ist das Schöne. Darüber aber müßtest Du Dich wundern, es als geistige Leistung bewundern, also mit Max und mir einig sein.

Auch sonst hast Du nicht eigentlich recht. (Wunderbar, sie wittert etwas und wagt sich im Sprung in das Dunkel hinter dem Kasten! Jetzt sitzt sie beim Kasten und wacht. Wie mir leichter wird!) Glaube einem Rattenhöhlenbesitzer, dass Deine Wohnung üppig ist, und es stört (abgesehen von anderem, das Dich eben bewundernswerter Weise nicht stört) dadurch, dass das "räumliche Zuviel" das "zeitliche Zuwenig" bewirkt. Deine Zeit liegt eben z. B, als Teppich im Vorzimmer. Mag sie dort liegen, sie ist schön als Teppich und gut als Hausfrieden, aber die künftige Zeit soll anverwandelt bleiben, für Dich und alle.

Meine Frage nach der Ethik war, wie ich jetzt sehe, eigentlich eine Bitte nach schriftlichen Vorlesungen, die ich als Ungeheuerlichkeit zurücknehme. Allerdings weiß ich dann mit Deiner Bemerkung über Glaube und Gnade und das Auseinandergehn mit Max oder gar mir nichts anzufangen.

Meine Gesundheit ist recht gut, vorausgesetzt, dass die Mäusefurcht der Tuberkulose nicht zuvor kommt.

Noch eine interessante Einzelheit aus dem militärischen Programm der Mittelmächte für 1918: Meiner Enthebung ist als Endtermin der I. I. 1918 gegeben. Hier ist Hindenburg einmal zu spät gekommen.

Herzliche Grüße Dir und Deiner Frau (bei der ich ja seit der Taschengeschichte leider nichts mehr zu verlieren habe).

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at