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An Oskar Baum

[Zürau, Oktober/November 1917]
 

Lieber Oskar,

an Direktor Marschner kann ich allerdings nicht schreiben, ein Vierteljahr und länger hat er von mir keinen Laut gehört, er kommt mir in meiner Sache wie eine Art Schmerzensreich vor, der nur zahlt und duldet. Aber es ist glücklicherweise gar nicht nötig ihm zu schreiben; der Vorstand des Bureaus der "Staatlichen Landeszentrale für Fürsorge für heimkehrende Krieger", Poric 7, ist Sekretär Dr. F. (er der erste, ich der zweite und letzte und abbröckelnde Jude der Anstalt), ein ausgezeichneter Mann, mit Liebe bei der Sache, jeder halbwegs erfüllbaren Bitte zugänglich. ich habe ihm eben den Sachverhalt geschrieben und das genügt wahrscheinlich, besser aber wäre es noch, wenn Du einmal zwischen neun und ein Uhr selbst zu ihm ins Bureau gingest, ich habe Dich ihm für jeden Fall angekündigt. Ich rate das besonders deshalb, weil mir (ich kenne allerdings die Einzelheiten der Blindenfürsorge nicht) 8000 Kc ein in der allgemeinen gewöhnlichen Kriegsbeschädigten-Fürsorge unerhört hoher Betrag scheint und ein mündliches erklärendes Wort doch nützlich wäre.

Damit Du jedenfalls ein Bild des Dr. F. im Umriß hast: er ist dreiviertel Tscheche, ganzer Sozialdemokrat, seine Muttersprache ist Deutsch (Du sprichst natürlich ungescheut deutsch mit ihm, so wie auch ich immer), hat eine schwere Jugend gehabt, war unter anderem Sekretär des alten Klaar von der "Vossischen", für Literatur hat er ein ursprüngliches Nichtinteresse hat jetzt im vierzigsten bis fünfzigsten Jahr ein tschechisches Schreibmaschinenfräulein geheiratet, sein Schwiegervater ist ein armer Tischler - also alles in allem ein Mann, mit dem sich sehr gut und sehr offen sprechen läßt. Sagst Du ein lobendes Wort nebenbei darüber, wie er sich seiner Sache hingibt, kannst Du ihn glücklich machen und hast keine Unwahrheit gesagt, übrigens wird er Dich vielleicht, eine kleine Schwäche, selbst halb gegen seinen Willen dazu herausfordern. Bleib aber nicht lange bei ihm, er hat sehr viel zu tun, vergißt es im Gespräch und bereut dann, es vergessen zu haben. Besonders die Sorge P's um seine Schwester wird ihn rühren. Was das bedeutet, weiß er aus eigener Erfahrung.

Der Referent für Kriegsblindenfürsorge, zu dem er Dich vielleicht führen wird (ohne aber die einmal übernommene Sache aus seiner Hand zu geben), ist Konzipist, Dr. (er ist nicht Dr., aber nenn ihn so) T. Der ist allerdings sehr anders, war im Krieg, äußerst regelmäßiges Gesicht, bleich, mager, mittelgroß, einige tiefe Falten der Korrektheit im Gesicht, spricht sehr langsam, schnarrend, ohne dass das Gesagte meistens die großen Pausen, Betonungen und Lippenanspannungen rechtfertigen würde - und ist also im ganzen eher abschreckend, aber nach meinen Erfahrungen hat das nicht viel zu bedeuten, er ist ein ganz guter und angenehmer Mensch, seinem Tempo muß man sich allerdings fügen.

Vielleicht mischt sich dann, wenn ich erwähnt werde, auch sein Zimmernachbar Herr Vizesekretär K. (ich schreibe es der Deutlichkeit halber noch einmal: K., es ist ein wirklicher, nicht ein von Dir erfundener Name) ins Gespräch, er ist mein nächster Kollege, von hier aus liebe ich ihn geradezu (Dr. F. liebt ihn nicht) und so wirst Du allmählich von drei Freunden umgeben sein, die hoffentlich alles für Herrn P. zum Guten führen werden.

dass die Sommerwohnung sich nicht ermöglichen läßt, hat mir sehr leid getan, trotzdem ich auch kaum meine Sommerwohnung hier haben werde. - Kierkegaard ist ein Stern, aber über einer mir fast unzugänglichen Gegend, es freut mich, dass Du ihn jetzt lesen wirst, ich kenne nur "Furcht und Zittern". -Willst Du nicht Krastik mir oder uns im Manuskript schicken? Du hast hier drei treue Leser, ed en in seiner Art. Herzliche Grüße Dir und Deiner lieben Frau.




meiner Sache: Bezieht sich auf Kafkas wiederholt verlängerten Krankenurlaub, dem später die Pensionierung folgte. - Im Folgenden setzt sich Oskar Baum für den Kriegsblinden P. ein, Kafka gibt Ratschläge.


Krastik: Hauptfigur des Romans "Die Tür ins Unmögliche". München, 1919.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at