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An Felix Weltsch
Lieber Felix, ich suche die Tage nicht aus, an denen ich Dir schreibe,
aber ich bin doch heute wieder (ohne dass es immer so wäre) so
kleinmütig, klotzig, schwerbäuchig, vielmehr so war ich, als
der Tag auf der Höhe war, jetzt nach dem gemeinsamen Nachtmahl, Ottla
ist in Prag, bin ich nicht einmal das, noch tiefer. Und nun finde ich überdies,
dass nach dem heutigen großen Aufräumen, für das ich
so sehr gedankt habe, der Lampenzylinder unten ein Loch bekommen hat, Luft
fängt und die Flamme, selbst nachdem ich das Loch mit einem Hölzchen
verdeckt habe, flackert. Vielleicht aber taugt alles das irgendwie gerade
zum Briefschreiben.
Das Dorfleben ist schön und bleibt es. Ottlas Haus steht auf dem Ringplatz,
schaue ich aus dem Fenster, sehe ich auf der andern Platzseite wieder ein
Häuschen, aber schon dahinter ist das freie Feld. Was kann, in jedem
Sinn, für das Atemholen besser sein; was mich betrifft, so schnaufe
ich zwar in jedem Sinne, körperlich am wenigsten, aber anderswo wäre
ich dem Ersticken nahe, was allerdings, wie ich aus aktiver und passiver
Erfahrung weiß, jahrelang ausgehalten werden kann.
Meine Beziehungen zu den Menschen hier sind so locker; das ist schon gar
kein Erdenleben mehr. Ich begegne z. B. heute abend auf der finstern Landstraße
zwei Menschen; Männern, Frauen, Kindern, ich weiß nicht; sie
grüßen, ich danke; mich haben sie vielleicht an meinem Mantelumriß
erkannt, ich wußte wahrscheinlich auch bei Licht nicht, wer sie sind,
jedenfalls erkenne ich sie an der Stimme nicht, das scheint bei dialektsprechenden
Menschen überhaupt unmöglich zu sein. Nachdem sie mich passiert
haben, dreht sich einer um und ruft: "Herr Hermann (so heißt
mein Schwager, Ich habe also den Namen übernommen), habens ka Zigarette?"
Ich: "Leider nein". Damit ist es vorüber; Worte und Irrtümer
der Abgeschiedenen. Ich wünsche mir, so wie ich jetzt bin, nichts
Besseres.
Was Du mit der "Eindrängung" des "Gegenwillens"
meinst, glaube ich zu verstehn, es gehört zu dem verdammt psychologischen
Theorienkreis, den Du nicht liebst, aber von dem Du besessen bist (und
ich wohl auch). Die Naturtheorien haben Unrecht so wie ihre psychologischen
Schwestern. Das rührt aber nicht an die Lösung der Frage, ob
die Welt aus einem Punkte zu kurieren ist.
Den Schnitzervortrag hätte ich gern gehört. Was Du über
Schnitzer sagst, ist sehr richtig, aber man unterschätzt doch solche
Leute leicht. Er ist ganz kunstlos, daher großartig aufrichtig, daher
dort, wo er nichts hat, als Redner, Schriftsteller, selbst als Denker nicht
nur unkompliziert, wie Du sagst, sondern geradezu blödsinnig. Setze
Dich ihm aber gegenüber, sieh ihn an, suche ihn zu überschauen,
auch seine Wirksamkeit, versuche für ein Weilchen Dich seiner Blickrichtung
zu nähern - er ist nicht so einfach abzutun.
"Das Buch" von mir mag wirklich wertvoll sein, ich wollte es
auch lesen, es liegt irgendwo in den himmlischen Regalen. Daß aber
eine 77jährige es sich zu ihrem Geburtstag schenken läßt
(vielleicht von ihrem Urenkel: "Ich bin klein, mein Geschenk ist
klein . . ."), dass dadurch Clemenceau'sches Familienblut in
Wallung kommt, dass der Hofrat zu einem entscheidenden
Urteil ohne Zeigefingerhebung sich drängen läßt (ein Umstand
übrigens, der zweifellos die tiefere Verächtlichkeit beweist,
welche die Sache für ihn hat), das alles - es ist zuviel, das ist
der Fehler.
Vor dem Hofrat habe ich auch immer eine besondere Achtung gehabt, nicht
deshalb weil ich, soweit die Erinnerung reicht, sehr schlecht bei ihm entsprochen
habe, sondern weil er, zum Unterschied von den andern, die immer mit dem
ganzen Gewicht ihrer Umständlichkeit auf dem Podium standen, nur eine
mit fünf Strichen zu umreißende, reinliche Figur hingestellt
hat, also seine wesentlichen Absichten zurückgehalten haben muß,
vor denen man sich irgendwie beugte.
Drei Kurse? Hat denn die Halbtag-Woche überhaupt für sie Platz?
Das ist zu viel, das genügt ja fast zur Ausfüllung eines Gymnasialprofessorenlebens.
Was sagt Max dazu?
Das Vortragsangebot, das Du den alten Schülerinnen machtest, war vielleicht
etwas unpädagogisch, nämlich wirklich erschreckend, und sie haben
Dich eben aus Deiner damaligen Riesengestalt mit aller Mädchenenergie
zum "jungen Deutschland" zusammengedrückt, das Dir auch
nicht immer so fremd ist, wie Du unter dem Zwange klagst. Übrigens
beginnt im nächsten Monat eine Zeitschrift "Das junge Deutschland",
vom Deutschen Theater herausgegeben, von Kornfeld redigiert.
Und "der Mensch" Zwar etwas lang- und widerhaarig
angezeigt, aber doch vielleicht eine gute Sache. Du erwähnst es gar
nicht. - Dir und der Frau viele Grüße.
Franz
[Randbemerkung:] Von Wolff laß Dich nicht abschrecken, er muß
sich zieren. Was rennt nicht alles gegen ihn an! Er kann nicht imstande
sein, Unterscheidungen zu machen.
Hofrat: Der bereits erwähnte Professor Zuckerkandl,
ein weitläufiger Verwandter Clemenceaus. Felix Weltsch hatte Kafka
am 17. Oktober 1917 geschrieben: "Ein Gespräch mit dem Hofrat
Zuckerkandl über - Dich. Er hat Dich als Dichter in den Himmel gehoben.
Seine Schwiegermutter hat in einem Kurort von einer befreundeten Dame von
einem Dichter Franz Kafka gehört, in den man unbedingt eingetreten
sein muß. Sie wünschte sich das Buch und bekam es. So las auch
der Hofrat vier Seiten und war begeistert: >Ich muß ihn doch kennen,
wenn er unser Doktor ist<."
Kornfeld: Der Prager Dramatiker Paul Kornfeld.
Der Mensch: Monatsschrift, herausgegeben von Leo
Reiss. Brünn, 1918/19.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at