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An Oskar Baum

[Zürau, Anfang Oktober 1917]
 

Lieber Oskar, die Reise hierher ist erstaunlich einfach, man fährt nach Michelob, und zwar vor sieben Uhr früh vom Staatsbahnhof mit dem Schnellzug und ist nach neun Uhr hier, oder um zwei Uhr mit dem Personenzug und kommt um halb sechs abends an. Auf telegraphische Verständigung hin wird man von uns mit unsern Pferden abgeholt und ist in etwa einer halben Stunde in Zürau. Die Reise kann sowohl als Tagesausflug gemacht werden (Ankunft in Prag vor 10 Uhr abends) oder für länger, denn in meinem Zimmer sind zwei ausgezeichnete Nachtlager, ich schlafe indessen in einem andern Zimmer, das so gut ist, dass ich es zu meiner ständigen Wohnung machen würde, wenn es einen Ofen hätte. Auch für Milch und Zugehör wäre genügend vorgesorgt und selbst für ein wenig Fortzutragendes.

Trotzdem - ich kann Euch nicht mit freiem Herzen raten, zu kommen. In der ersten Woche, vielleicht auch noch in der zweiten, war es anders, ich hätte Euch alle hier haben wollen, und wenn ich nicht jeden Einzelnen um den Besuch gebeten habe, so nur deshalb, weil es mir einerseits selbstverständlich schien, dass ihr alle kommen müßtet, und andrerseits die Post, die hier die Gestalt eines launischen unzuverlässigen Burschen hat, einen viel zu langen Weg macht (Zürau-Prag-Zürau = 8 Tage oder überhaupt nicht), um so dringende Nachrichten austragen zu können. - Jetzt aber, in der dritten Woche, wird es hier anders und ich wüßte nichts, was verdienen würde, dass man dazu einlädt. Für mich bleibt Zürau allerdings das alte und ich gedenke mich hier so festzubeißen, dass man zuerst mein Gebiß wird überwältigen müssen, ehe man mich fortbringt (nein, das ist übertrieben und ich hatte nicht den ganzen Überblick, als ich das schrieb). Immerhin für mich ist es hier gut, sonst aber gibt es einiges, was niemandem, selbst Euch, die Ihr so willig seid, gefallen könnte, unter anderem ich selbst oder vielleicht gar nicht "unter anderem", sondern nur ich selbst. Und so bitte ich Euch, zu denen ich offen sprechen darf, fast so herzlich, wie ich Euch früher gebeten hätte zu kommen: kommt jetzt nicht.

Das hat natürlich nichts mit meiner ärztlich bewilligten Krankheit zu tun. Ob es mir besser geht als früher, weiß ich gar nicht, d. h., es geht mir so gut wie früher, ich hatte bisher kein Leiden, das so leicht zu tragen und so zurückhaltend gewesen wäre, es müßte denn sein, dass gerade dies verdächtig scheinen könnte, was es ja vielleicht auch ist. Ich sehe so gut aus, dass mich die Mutter, die Sonntags hier war, auf dem Bahnhof gar nicht erkannte (nebenbei: meine Eltern wissen von der Tuberkuiose nichts; nicht wahr, Ihr seid vorsichtig, wenn Ihr zufällig mit ihnen zusammenkommen solltet), in vierzehn Tagen habe ich eineinhalb Kilogramm zugenommen (morgen wird zum dritten Mal gewogen) und schlafe sehr verschiedenartig, aber der Durchschnitt ist nicht der schlimmste. - Übrigens komme ich nächstens (ich sage "nächstens" und meine "Ende des Monats", ein solcher Herrscher über die Zeit bin ich geworden) nach Prag und Ihr werdet alles, das Schlechte und das Gute, selbst überprüfen können.

Von dem neuen Rezept, das Ihr uns so freundlich einschickt, sind wir beschämt. Auch diese Sache hat eine Zürauer Entwicklung durchgemacht. Zuerst war man entzückt und das Fehlen der Korke und der Korkmaschine schien ein ganz unwesentliches Hindernis. Dann hat sich das Entzücken verloren und es ist mir die Überzeugung geblieben, dass die Korke und die Korkmaschine auf keine Weise zu beschaffen sein werden. Jetzt schreibt Ihr, dass man die Flaschen auch versiegeln kann. Das könnte die Sache wieder ein wenig beleben. Doch ist allerdings jetzt gerade in der Wirtschaft viel zu tun und Ottla ist in fortwährender großartiger Arbeit.

Eine meiner Hauptsorgen, die sich allerdings nur in Träumen auf dem Liegestuhl äußert, ist: wie ich Euch etwas zu essen verschaffen könnte. Es ist leider wenig zu haben und auf dieses Wenige sind wir, die wir weder Hühner noch Kühe noch genügend Korn haben, angewiesen und was wir darüber hinaus an Butter und Eiern zusammenbekommen, danach schreit die Prager Familie. Wollt Ihr Wild? Vorläufig habe ich für Euch vier Kilogramm schönen Mehls aufgehoben, die gehören Euch und Ihr bekommt sie spätestens, sobald ich nach Prag komme; ich weiß, im Dunkel des kommenden Winters ist das nur ein winziges Licht.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at