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An Felix Weltsch
Lieber Felix, das scheint ein Mißverständnis gewesen zu sein.
Wir haben Dich d. h. Euch eingeladen, um Euch hier zu haben, nicht damit
Ihr das Nichtviele wegträgt, was es hier gibt. Wurde etwas Derartiges
angedeutet, sollte es nur Verlockung sein. Die Hauptschwierigkeit schien
mir in der Beschaffung des Urlaubs zu liegen, aber gerade diese Schwierigkeit
nimmst Du am leichtesten. Schlafgelegenheit gibt es für beide. Zu
haben ist aber tatsächlich nicht viel. Für die örtlichen
Bedürfnisse und den zugereisten Kranken reicht es vorläufig,
es gibt sogar eine gewisse Fülle, aber abziehn läßt sich
sehr wenig und nur allmählich. Jedenfalls wird aber etwas für
Euch aufgespart werden.
Vor der Übersiedlung stehe ich wirklich stramm, vor wie viel Geringerem
versage ich. Die Teekur gefällt mir nicht, aber mit meiner Lunge darf
ich vielleicht nichts mehr in Gesundheitssachen sagen. Nur das eine, dass
zu dieser Kur ein Jakett gehört, in dessen Hintertasche halb sichtbar
man die Thermosflasche steckt.
Für welchen Klub galt die Einladung? Den jüdischen doch? Hältst
Du einmal einen öffentlichen Vortrag und wird er rechtzeitig angezeigt,
wirst Du sogar einen Zuhörer haben, der eigens aus der Provinz kommt,
vorausgesetzt allerdings, dass er noch transportabel ist.
Vorläufig bin ichs zweifellos, habe ein Kilogramm in der ersten Woche
zugenommen und fühle die Krankheit in ihrer Anfangserscheinung mehr
als Schutzengel denn als Teufel. Aber wahrscheinlich ist gerade die Entwicklung
das Teuflische an der Sache und vielleicht erscheint dann im Rückblick
das scheinbar Engelhafte als das Schlimmste.
Gestern kam ein Brief von Dr. Mühlstein (ich hatte ihm erst brieflich
mitgeteilt, dass ich beim Professor P. gewesen bin,
legte auch eine Abschrift des Gutachtens bei), in welchem es unter anderem
heißt: Besserung (!) können Sie sicher erwarten, allerdings
wird sie nur in längern Zeitintervallen zu konstatieren sein.
So haben sich allmählich meine Aussichten bei ihm getrübt. Nach
der ersten Untersuchung war ich fast ganz gesund, nach der zweiten war
es sogar noch besser, später ein leichter Bronchialkatarrh links,
noch später "um nichts zu verkleinern und nichts zu vergrößern"
Tuberkulose rechts und links, die aber in Prag und vollständig und
bald ausheilen wird, und jetzt schließlich kann ich einmal, einmal
Besserung sicher erwarten. Es ist, als hätte er mir mit seinem großen
Rücken den Todesengel, der hinter ihm steht, verdecken wollen und
als rücke er jetzt allmählich beiseite. Mich schrecken (leider?)
beide nicht.
Mein Leben hier ist ausgezeichnet, wenigstens bei dem schönen Wetter
bisher. Ich habe zwar kein sonniges Zimmer, aber einen großartigen
Sonnenplatz zum Liegen. Eine Anhöhe oder vielmehr eine kleine Hochebene
in der Mitte eines weiten halbkreisförmigen Kessels, den ich beherrsche.
Dort liege ich wie ein König, mit den begrenzenden Höhenzügen
in gleicher Höhe etwa. Dabei sieht mich infolge vorteilhafter Anlage
der nächsten Umgebung kaum irgend jemand, was bei der komplizierten
Zusammenstellung meines Liegestuhles und bei meiner Halbnacktheit sehr
angenehm ist. Nur sehr selten steigen am Rand meiner Hochebene ein paar
oppositionelle Köpfe auf und rufen: "Gehns vom Bänkel runter!"
Radikalere Zurufe kann ich wegen des Dialekts nicht verstehn. Vielleicht
werde ich noch Dorfnarr werden, der gegenwärtige, den ich heute gesehen
habe, lebt eigentlich wie es scheint in einem Nachbardorf und ist schon
alt.
Mein Zimmer ist nicht so gut wie dieser Platz, nicht sonnig und nicht ruhig.
Aber gut eingerichtet und es wird Euch gefallen, denn dort würdet
Ihr schlafen. Ich kann sehr gut in einem andern Zimmer schlafen, wie ich
z. B. gestern getan habe, als F. hier war.
Wegen F. habe ich eine bibliothekarische Bitte. Du kennst unsern alten
"bis"-Streit. Nun habe ich sie mißverstanden. Sie meint,
"bis" könne zwar als Konjunktion verwendet werden, aber
nur in der Bedeutung "solange bis". Man könne deshalb
z. B. nicht sagen: "Bis Du herkommst, werde ich Dir fünfhundert
Kilogramm Mehl geben". (Still, es ist nur ein grammatikalisches Beispiel.)
Willst Du bitte nach dem Grimm (ich habe die Beispiele schon vergessen)
oder nach andern Büchern entscheiden, ob F. recht hat. Die Sache ist
nicht unwichtig zur Charakterisierung meiner Doppelstellung ihr gegenüber
als eines Erd- und Höllenhundes.
Übrigens noch eine Bitte, die gut anschließt: Im zweiten Band
der "krankhaften Störungen des Trieb- und Affektlebens (Onanie
und Homosexualität)" von Dr. Wilhelm Stekel
oder so ähnlich (Du kennst doch diesen Wiener, der aus Freud kleine
Münze macht), stehn fünf Zeilen über die "Verwandlung".
Hast Du das Buch, dann sei so freundlich und schreib es mir ab.
Und, es hört nicht auf, noch eine Bitte, aber die letzte: Ich lese
hier fast nur Tschechisch und Französisch und ausschließlich
Selbstbiographien oder Briefwechsel, natürlich halbwegs gut gedruckt.
Kölntest Du mir je einen derartigen Band borgen? Die Auswahl überlasse
ich Dir. Es ist fast alles derartige, wenn es nicht allzu begrenzt militärisch,
politisch oder diplomatisch ist, für mich sehr ergiebig. Die tschechische
Auswahlmöglichkeit wird wahrscheinlich besonders klein sein, zudem
habe ich jetzt vielleicht das beste dieser Bücher, eine Briefwechselauswahl
der Božena Nemcová, unerschöpflich für
Menschenerkenntnis, gelesen.
Wo hält jetzt Dein politisches Buch?
Viele Grüße
Franz
Es fällt mir ein: Das Liebesleben der Romantik wäre auch nicht
übel. Aber die obigen zwei Bücher sind wichtiger. Ist Kaution
nötig, lasse ich sie erlegen. Die vier Bände (Steinerne Brücke
und Prag) hast Du wohl schon bekommen. - Wenn Du mir dann einmal schreibst,
dass Du die Bücher hast, holt sie jemand aus unserem Geschäft
und ich bekomme sie in einem Paket, das man mir von Zeit zu Zeit schickt.
Ottla ist seit gestern in Prag, sonst hätte sie auch geschrieben.
Die durchstrichenen Worte auf der vorigen Seite sind der Anfang einer Frage
gewesen, die ich unterlassen habe, weil zu viel rohe fachmännische
Neugier darin gewesen wäre. Jetzt da ich es eingestanden habe, ist
es schon besser und ich kann fragen: Was weißt Du von Robert Weltsch?
Professor P.: Professor Pick, der als erster Kafkas
Tuberkulose konstatierte.
Dr. Wilhelm Stekel: Wilhelm Stekel, Krankhafte Störungen
des Trieb- und Affektlebens. Berlin, 1917.
Nemcová: Die große tschechische Erzählerin
- ihr Hauptwerk: "Babicka" ("Großmütterchen").
Buch: Felix Weltsch, Organische Demokratie. Leipzig,
1918.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at