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An Felix Weltsch

[Zürau, 22. September 1917]
 

Lieber Felix, das scheint ein Mißverständnis gewesen zu sein. Wir haben Dich d. h. Euch eingeladen, um Euch hier zu haben, nicht damit Ihr das Nichtviele wegträgt, was es hier gibt. Wurde etwas Derartiges angedeutet, sollte es nur Verlockung sein. Die Hauptschwierigkeit schien mir in der Beschaffung des Urlaubs zu liegen, aber gerade diese Schwierigkeit nimmst Du am leichtesten. Schlafgelegenheit gibt es für beide. Zu haben ist aber tatsächlich nicht viel. Für die örtlichen Bedürfnisse und den zugereisten Kranken reicht es vorläufig, es gibt sogar eine gewisse Fülle, aber abziehn läßt sich sehr wenig und nur allmählich. Jedenfalls wird aber etwas für Euch aufgespart werden.

Vor der Übersiedlung stehe ich wirklich stramm, vor wie viel Geringerem versage ich. Die Teekur gefällt mir nicht, aber mit meiner Lunge darf ich vielleicht nichts mehr in Gesundheitssachen sagen. Nur das eine, dass zu dieser Kur ein Jakett gehört, in dessen Hintertasche halb sichtbar man die Thermosflasche steckt.

Für welchen Klub galt die Einladung? Den jüdischen doch? Hältst Du einmal einen öffentlichen Vortrag und wird er rechtzeitig angezeigt, wirst Du sogar einen Zuhörer haben, der eigens aus der Provinz kommt, vorausgesetzt allerdings, dass er noch transportabel ist.

Vorläufig bin ichs zweifellos, habe ein Kilogramm in der ersten Woche zugenommen und fühle die Krankheit in ihrer Anfangserscheinung mehr als Schutzengel denn als Teufel. Aber wahrscheinlich ist gerade die Entwicklung das Teuflische an der Sache und vielleicht erscheint dann im Rückblick das scheinbar Engelhafte als das Schlimmste.

Gestern kam ein Brief von Dr. Mühlstein (ich hatte ihm erst brieflich mitgeteilt, dass ich beim Professor P. gewesen bin, legte auch eine Abschrift des Gutachtens bei), in welchem es unter anderem heißt: Besserung (!) können Sie sicher erwarten, allerdings wird sie nur in längern Zeitintervallen zu konstatieren sein.

So haben sich allmählich meine Aussichten bei ihm getrübt. Nach der ersten Untersuchung war ich fast ganz gesund, nach der zweiten war es sogar noch besser, später ein leichter Bronchialkatarrh links, noch später "um nichts zu verkleinern und nichts zu vergrößern" Tuberkulose rechts und links, die aber in Prag und vollständig und bald ausheilen wird, und jetzt schließlich kann ich einmal, einmal Besserung sicher erwarten. Es ist, als hätte er mir mit seinem großen Rücken den Todesengel, der hinter ihm steht, verdecken wollen und als rücke er jetzt allmählich beiseite. Mich schrecken (leider?) beide nicht.

Mein Leben hier ist ausgezeichnet, wenigstens bei dem schönen Wetter bisher. Ich habe zwar kein sonniges Zimmer, aber einen großartigen Sonnenplatz zum Liegen. Eine Anhöhe oder vielmehr eine kleine Hochebene in der Mitte eines weiten halbkreisförmigen Kessels, den ich beherrsche. Dort liege ich wie ein König, mit den begrenzenden Höhenzügen in gleicher Höhe etwa. Dabei sieht mich infolge vorteilhafter Anlage der nächsten Umgebung kaum irgend jemand, was bei der komplizierten Zusammenstellung meines Liegestuhles und bei meiner Halbnacktheit sehr angenehm ist. Nur sehr selten steigen am Rand meiner Hochebene ein paar oppositionelle Köpfe auf und rufen: "Gehns vom Bänkel runter!" Radikalere Zurufe kann ich wegen des Dialekts nicht verstehn. Vielleicht werde ich noch Dorfnarr werden, der gegenwärtige, den ich heute gesehen habe, lebt eigentlich wie es scheint in einem Nachbardorf und ist schon alt.

Mein Zimmer ist nicht so gut wie dieser Platz, nicht sonnig und nicht ruhig. Aber gut eingerichtet und es wird Euch gefallen, denn dort würdet Ihr schlafen. Ich kann sehr gut in einem andern Zimmer schlafen, wie ich z. B. gestern getan habe, als F. hier war.

Wegen F. habe ich eine bibliothekarische Bitte. Du kennst unsern alten "bis"-Streit. Nun habe ich sie mißverstanden. Sie meint, "bis" könne zwar als Konjunktion verwendet werden, aber nur in der Bedeutung "solange bis". Man könne deshalb z. B. nicht sagen: "Bis Du herkommst, werde ich Dir fünfhundert Kilogramm Mehl geben". (Still, es ist nur ein grammatikalisches Beispiel.) Willst Du bitte nach dem Grimm (ich habe die Beispiele schon vergessen) oder nach andern Büchern entscheiden, ob F. recht hat. Die Sache ist nicht unwichtig zur Charakterisierung meiner Doppelstellung ihr gegenüber als eines Erd- und Höllenhundes.

Übrigens noch eine Bitte, die gut anschließt: Im zweiten Band der "krankhaften Störungen des Trieb- und Affektlebens (Onanie und Homosexualität)" von Dr. Wilhelm Stekel oder so ähnlich (Du kennst doch diesen Wiener, der aus Freud kleine Münze macht), stehn fünf Zeilen über die "Verwandlung". Hast Du das Buch, dann sei so freundlich und schreib es mir ab.

Und, es hört nicht auf, noch eine Bitte, aber die letzte: Ich lese hier fast nur Tschechisch und Französisch und ausschließlich Selbstbiographien oder Briefwechsel, natürlich halbwegs gut gedruckt. Kölntest Du mir je einen derartigen Band borgen? Die Auswahl überlasse ich Dir. Es ist fast alles derartige, wenn es nicht allzu begrenzt militärisch, politisch oder diplomatisch ist, für mich sehr ergiebig. Die tschechische Auswahlmöglichkeit wird wahrscheinlich besonders klein sein, zudem habe ich jetzt vielleicht das beste dieser Bücher, eine Briefwechselauswahl der Božena Nemcová, unerschöpflich für Menschenerkenntnis, gelesen.

Wo hält jetzt Dein politisches Buch?

Viele Grüße

Franz


Es fällt mir ein: Das Liebesleben der Romantik wäre auch nicht übel. Aber die obigen zwei Bücher sind wichtiger. Ist Kaution nötig, lasse ich sie erlegen. Die vier Bände (Steinerne Brücke und Prag) hast Du wohl schon bekommen. - Wenn Du mir dann einmal schreibst, dass Du die Bücher hast, holt sie jemand aus unserem Geschäft und ich bekomme sie in einem Paket, das man mir von Zeit zu Zeit schickt.

Ottla ist seit gestern in Prag, sonst hätte sie auch geschrieben.

Die durchstrichenen Worte auf der vorigen Seite sind der Anfang einer Frage gewesen, die ich unterlassen habe, weil zu viel rohe fachmännische Neugier darin gewesen wäre. Jetzt da ich es eingestanden habe, ist es schon besser und ich kann fragen: Was weißt Du von Robert Weltsch?




Professor P.: Professor Pick, der als erster Kafkas Tuberkulose konstatierte.


Dr. Wilhelm Stekel: Wilhelm Stekel, Krankhafte Störungen des Trieb- und Affektlebens. Berlin, 1917.


Nemcová: Die große tschechische Erzählerin - ihr Hauptwerk: "Babicka" ("Großmütterchen").


Buch: Felix Weltsch, Organische Demokratie. Leipzig, 1918.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at