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An Gott fried Kölwel

Prag, 3. Januar 16
 

Sehr geehrter Herr Kölwel!

Jetzt fand ich Ihre Gedichte. Vielen Dank. Ich dachte kaum mehr, dass sie kamen und bedauerte es, denn ich hatte den allgemeinen Eindruck stark in meinem alle Einzelheiten unsinnig rasch verlierenden Gedächtnis und wäre ihm gerne in der Wirklichkeit nachgegangen. Nun kann ich es an den drei Gedichten tun, besonders an den Wehenden, die mir am besten den Münchner Eindruck wieder beleben. Ich las die Gedichte dort unter ungewöhnlichen Umständen. Ich war hingekommen mit meiner Geschichte als Reisevehikel, in eine Stadt, die mich außer als Zusammenkunftsort und als trostlose Jugenderinnerung gar nichts anging, las dort meine schmutzige Geschichte in vollständiger Gleichgültigkeit, kein leeres Ofenloch kann kälter sein, war dann, was mir hier selten geschieht, mit fremden Menschen beisammen, von denen mich Pulver eine Zeitlang geradezu betörte, fand Sie zu einfach, um mich wesentlich zu kümmern, wunderte mich dann am nächsten Tag im Kaffeehaus über die Zufriedenheit, mit der Sie von Ihrem Leben, Ihren Arbeiten und Plänen erzählten, wußte mit Ihrer Nacherzählung einer Prosaarbeit nichts anzufangen und bekam schließlich - ohne dass ich damit alles was in München in mir vorging gestreift hätte - Ihre Gedichte in die Hand. Diese Gedichte trommelten mir zeilenweise förmlich gegen die Stirn. So rein, so sündenrein in allem waren sie, aus reinem Atem kamen sie; ich hätte alles was ich in München angestellt hatte, an ihnen reinigen wollen. Und vieles davon finde ich jetzt wieder. Denken Sie bitte wieder einmal an mich und schicken mir etwas.

Mit besten Grüßen sehr ergeben

Kafka




Gottfried Kölwel: Der Lyriker Gottfried Kölwel wurde mit seinem ersten Gedichtband ("Gesänge gegen den Tod", 1914) von Martin Buber an Kurt Wolff empfohlen und gehörte seitdem zu den Autoren des Verlages. - Erlernte Kafka im November 1916 anläßlich der Vorlesung von "In der Strafkolonie" in der Buchhandlung Goltz in München kennen.


3. Januar 16: Von Kafka falsch datiert; die Vorlesung in München fand erst November 1916 statt (siehe auch den Brief an Kurt Wolff vom 11. X. 1916).


Wehenden: Dies und auch die anderen Gedichte erschienen dann im Band "Erhebung". München, 1918.


Pulver: der Schriftsteller und spätere Graphologe Max Pulver.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at