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[Stempel: Flöhau, 10. 12. 17]

[An:] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P. Flöhau


Lieber Max, ein Mißverständnis: keine schlaflosen Nächte wegen der Mäuse außer der ersten wilden Nacht. Ich schlafe überhaupt vielleicht nicht sehr gut, aber im Durchschnitt zumindest so gut wie in den besten Prager Schlafzeiten. Auch die "Feueraugen" bedeuteten nur, dass ich mit Mißlingen Katzenaugen in das Mäusedunkel hinein zu machen versuchte. Und jetzt ist das alles, wenigstens vorläufig, überflüssig, denn eine Schachtel mit Sand nimmt fast alles gesammelt auf, was die Katze früher über Teppiche und Kanapee verstreute. Wunderbar wenn man mit einem Tier einig geworden ist. Wie ein gut erzogenes Kind geht es abend, nachdem es Milch bekommen hat, zur Schachtel, steigt hinein, buckelt sich, weil die Schachtel zu klein ist, und tut, was es muß. Diese Angelegenheit macht mir also augenblicklich keine Sorgen. "Mäuseloses Sanatorium"; "mäuselos" was ja gleichzeitig "katzelos" bedeutet, ist allerdings ein großes Wort, aber nicht so groß, als das Wort "Sanatorium" klein ist und darum will ich doch nicht gern hinein. Meine Gesundheit ist gleicherweise gut: Aussehen befriedigend, Husten, wenn es möglich ist, noch seltener als in Prag, es gibt wohl Tage, ich achte nicht darauf, an denen ich gar nicht huste, die Kurzatmigkeit allerdings dürfte noch ebenso bestehn, d. h. sie kommt bei meinem gewöhnlichen arbeitslosen Leben überhaupt nicht hervor, nicht einmal bei meinen Spaziergängen, nur wenn ich während des Gehns mit jemandem reden soll, - das wird zuviel. Aber das ist eine Begleiterscheinung des ganzen Zustandes, über den sich ja auch der Professor, als ich ihm davon erzählte, und auch Dr. Mühlstein gar nicht aufhielt. Ich weiß nicht, warum sich die Sanatoriumfrage jetzt entscheiden soll, das nicht, aber die Anstaltsfrage wird sich entscheiden, denn wenn ich jetzt zum Professor komme, wird er mich für den Winter in die Anstalt schicken wollen, ich aber werde nicht gehn oder so unendlich zögernd, dass es vom Direktionsfenster aus gesehn, wie ein Nichtgehn aussehn wird. Aber es ist vor allem deshalb kein Spaß, weil sie wahrhaft freundlich zu mir sind und manches manchem insbesondere von manchem nicht begreiflich gemacht werden kann.

    Zweites Mißverständnis: ich will Dich nicht trösten, indem ich Dein Kranksein anzweifle. Wie könnte ich es anzweifeln, da ich es doch sehe. Auf Deiner Seite stehe ich nur deshalb entschiedener als Du, weil ich Deine Würde, Deine Menschenwürde dadurch bedroht fühle, dass Du unter dem Kranksein so sehr leidest. Gewiß, es ist leicht in einer ruhigeren Zeit so zu urteilen und Du wirst es ebenso tun, aber ein Vergleich etwa zwischen meinem Früher und Deinem Jetzt müßte doch unterscheiden. War ich verzweifelt, so war ich es unverantwortlich, mein Kranksein und mein-unter-dem-Kranksein-Leiden war eines, ich hatte fast nichts darüber hinaus. So steht es aber mit Dir nicht. In Deinem Fall heißt es nicht: es dürfte, heißt es vielmehr: es darf keinen so starken Angriff geben, dass Du vor ihm so zurückweichst, wie Du es tust oder wie Du, das ist mein Glaube (der Dich nicht trösten soll, sondern nur mein Glaube ist), es zu tun scheinst, Dir selbst zu tun scheinst.

    Ich glaube nicht, dass ich Dir einen wesentlicheren Rat hätte geben können, als das geringfügig Unbestimmte, das ich sagte. Ich wäre allerdings noch sehr gern stundenlang in Deinem Bureau mit Dir gesessen, dort war es besonders schön, und hätte Dir zugehört, aber das hätte nur meine Freude, unabhängig vom Gut und Böse des Vorgelesenen ergeben, aber keinen entscheidenden Rat, keinen im Einzelfall brauchbaren Rat. Solche Ratschläge konnte ich niemals geben, jetzt aber aus andern Gründen nicht. Ich glaube, solche Ratschläge können nur aus dem Geiste der Selbstbeherrschungs-Pädagogik, die mir immer hilfloser erscheint, gegeben werden. Mir fällt, sehr undeutlich allerdings, ein Beispiel aus Förster ein, welches zeigt, wie man unfehlbar einem Kinde Überzeugung beibringen kann, dass nicht nur jeder Mensch beim Eintritt ins Zimmer die Tür hinter sich zu schließen hat, sondern unbedingt auch dieses Kind diese Tür. - Eine Aufgabe, der gegenüber ich ratlos wäre, aber der gegenüber ich Ratlosigkeit für richtig halte. Gewiß ist es schwer, die Fähigkeit des Türschließens zu erkitzeln, aber es ist auch sinnlos, es wäre denn, dass es wenigstens unrecht ist. Ich will damit etwa sagen: es ist vielleicht möglich zu raten, aber besser ist Nicht-ablenken. - Max, Du fehlst mir zumindest nicht weniger, aber das Bewußtsein, dass Du lebst, dass ich Dich habe, dass Briefe von Dir kommen, gibt mir in dieser Richtung Ruhe. Und außerdem weiß ich, dass Du das Glück des Romans hast, das Du auf keine Weise entschuldigen kannst.


Franz         

[Randbemerkung:] Wegen der Einladung des "Anbruch" fragte ich deshalb, weil ich mir sonst nicht erklären konnte, woher man meine Zürauer Adresse wußte. Die sagtest Du also ihnen doch?

Bitte rechtzeitig schreiben, wann Du nach Dresden fährst. Wegen meiner Prager Reise.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Förster: 1916 hatte sich Kafka intensiv mit Friedrich Wilhelm Foersters Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, Berlin: Georg Reimer 1904, beschäftigt, da dieses Buch von der Helferschaft im "Jüdischen Volksheim" in Berlin studiert wurde. Siehe F passim und 1916 Anm. 13.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at