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[Brief. Stempel: Flöhau, 4. 12. 17]

[An:] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P. Flöhau


Lieber Max, nur Zufall, dass ich erst heute antworte und eben auch die Zimmer-, Licht- und Mäuseverhältnisse. Aber mit Nervosität und einem Stadt-Dorf-Austausch hat das nichts zu tun. Das was ich gegenüber den Mäusen habe, ist platte Angst. Auszuforschen woher sie kommt, ist Sache der Psychoanalytiker, ich bin es nicht. Gewiß hängt sie wie auch die Ungezieferangst mit dem unerwarteten, ungebetenen, unvermeidbaren, gewissermaßen stummen, verbissenen, geheimabsichtlichen Erscheinen dieser Tiere zusammen, mit dem Gefühl, dass sie die Mauern ringsherum hundertfach durchgraben haben und dort lauern, dass sie sowohl durch die ihnen gehörige Nachtzeit als auch durch ihre Winzigkeit so fern uns und damit noch weniger angreifbar sind. Besonders die Kleinheit gibt einen wichtigen Angstbestandteil ab, die Vorstellung z. B., dass es ein Tier geben sollte, das genau so aussehn würde wie das Schwein, also an sich belustigend, aber so klein wäre wie eine Ratte und etwa aus einem Loch im Fußboden schnaufend herauskäme - das ist eine entsetzliche Vorstellung.

    Seit ein paar Tagen habe ich einen recht guten, wenn auch nur provisorischen Ausweg gefunden. Ich lasse die Katze während der Nacht im leeren Nebenzimmer, verhüte dadurch die Verunreinigung meines Zimmers (schwer ist, sich in dieser Hinsicht mit einem Tier zu verständigen. Es scheinen lediglich Mißverständnisse zu sein, denn die Katze weiß infolge von Schlägen und verschiedenen sonstigen Aufklärungen, dass die Verrichtung der Notdurft etwas Unbeliebtes ist und der Ort dafür sorgfältig ausgesucht werden muß. Wie macht sie es also? Sie wählt z. B. einen Ort, der dunkel ist, der mir ferner ihre Anhänglichkeit beweist und außerdem natürlich auch für sie Annehmlichkeiten hat. Von der Menschenseite aus gesehn ist dieser Ort zufällig das Innere meines Pantoffels. Also ein Mißverständnis und solcher gibt es so viele als Nächte und Bedürfnisse) und die Möglichkeit des Bettsprungs, habe aber doch die Beruhigung, wenn es schlimm werden sollte, die Katze einlassen zu können. Diese letzten Nächte waren auch ruhig, wenigstens gab es keine ganz eindeutigen Mäuseanzeichen. Dem Schlaf nützt es allerdings nicht, wenn man einen Teil der Katzenaufgabe selbst übernimmt, mit gespitzten Ohren und Feueraugen aufrecht oder vorgebeugt im Bett horcht, aber so war es nur in der ersten Nacht, es wird schon besser.

    Ich erinnere mich an die besonderen Fallen, von denen Du mir schon öfter erzählt hast, die sind aber wohl jetzt nicht zu haben, auch will ich sie eigentlich nicht. Fallen locken ja sogar noch an und rotten nur die Mäuse aus, die sie totschlagen. Katzen dagegen vertreiben die Mäuse schon durch die bloße Anwesenheit, vielleicht sogar schon durch die bloßen Ablagerungen, weshalb auch diese nicht ganz zu verachten sind. Auffallend war es besonders in der ersten Katzennacht, welche auf die große Mäusenacht folgte. Es war zwar noch nicht ganz "mäuschenstill", aber keine lief mehr herum, die Katze saß, verdüstert wegen des ihr aufgezwungenen Lokalwechsels, im Winkel beim Ofen und rührte sich nicht, aber es genügte, es war wie die Anwesenheit des Lehrers, nur noch geschwätzt wurde hie und da in den Löchern.

    Du schreibst so wenig von Dir, ich räche mich mit den Mäusen.

    Du schreibst: "ich warte auf Erlösung". Glücklicherweise deckt sich Dein bewußtes Denken und Dein Handeln nicht ganz. Wer fühlt sich denn nicht "krank, schuldbewußt, ohnmächtig" im Kampf mit seiner Aufgabe oder vielmehr als Aufgabe, die sich selbst löst? Wer kann erlösen, ohne dass er gleichzeitig erlöst würde? Auch Janáček (um dessen Brief Dich übrigens meine Schwester bittet) läuft am Tage seines Konzertes in Prag herum. Im übrigen: Du bist nicht wehleidig und das alles sind Augenblicke. Und jene Talmuderzählung würde ich anders erzählen: Die Gerechten weinen, weil sie so viel Leid hinter sich zu haben geglaubt hatten und nun sehen, dass es nichts war im Vergleich zu dem, was sie jetzt sind. Die Ungerechten aber - gibt es solche?

    Meinen vorletzten Brief hast Du mit keinem Wort beantwortet, auch Werfels Adresse nicht geschickt, deshalb mußt Du jetzt, bitte, meinen Brief an Werfel selbst schicken. Eine Einladung vom "Anbruch" hast Du wohl veranlaßt?

Franz         



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Anbruch": Der Anbruch, eine zunächst von Felix Grafe redigierte Zeitschrift expressionistischer Graphik und Literatur, die ab Januar 1918 erschien (1918 Wien: Verlag Der Anbruch; 1919-1920 Berlin: Graphisches Kabinett I. B. Neumann; 1921-1922 Berlin: Erich Reiß).


Letzte Änderung: 16.10.2012werner.haas@univie.ac.at