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[Stempel: Flöhau, 2(0?). 11. 17]

[An:] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P Flöhau


Liebster Max, was ich tue, ist etwas einfaches und selbstverständliches: Ich habe in der Stadt, in der Familie, dem Beruf, der Gesellschaft, der Liebesbeziehung (setz sie, wenn Du willst, an die erste Stelle), der bestehenden oder zu erstrebenden Volksgemeinschaft, in dem allen habe ich mich nicht bewährt und dies in solcher Weise, wie es - hier habe ich scharf beobachtet - niemandem rings um mich geschehen ist. Es ist das ja im Grunde die kindliche Meinung ("so gemein wie ich ist niemand"), die sich später zu neuem Schmerz widerlegt, in dieser Beziehung aber (es handelt sich hier nicht mehr um Gemeinheit oder Selbstvorwürfe, sondern um die offenbare innere Tatsache des Sich-Nicht-Bewährens) ist diese Meinung aufrecht geblieben und bleibt. Ich will mich nicht des Leidens rühmen, welches dieses nichtgelebte Leben begleitete, es erscheint auch (und dies auf allen kleinen Stationen seit jeher) im Rückblick unverdient geringfügig gegenüber den Tatsachen, deren Druck es zu widerstehen hatte, immerhin war es zu groß, um weiterhin ertragen werden zu können, oder wenn es nicht zu groß war, so war es doch jedenfalls zu sinnlos. (In diesen Niederungen ist vielleicht die Frage nach dem Sinn erlaubt.) Der nächste Ausweg, der sich, vielleicht schon seit den Kinderjahren, anbot, war, nicht der Selbstmord, sondern der Gedanke an ihn. In meinem Fall war es keine besonders zu konstruierende Feigheit, die mich vom Selbstmord abhielt, sondern nur die gleichfalls in Sinnlosigkeit endigende Überlegung: "Du, der Du nichts tun kannst, willst gerade dieses tun? Wie kannst Du den Gedanken wagen? Kannst Du Dich morden, mußt Du es gewissermaßen nicht mehr. U. s. w." Später kam langsam noch andere Einsicht hinzu, an Selbstmord hörte ich auf zu denken. Was mir nun bevorstand, war, wenn ich es über verwirrte Hoffnungen, einsame Glückzustände, aufgebauschte Eitelkeiten hinweg klar dachte (dieses "hinweg" gelang mir ja eben nur so selten, als das Am-Leben-Bleiben es vertrug): ein elendes Leben, elender Tod. "Es war, als sollte die Scham ihn überleben" ist etwa das Schlußwort des Prozeßromans.

    Einen neuen, in dieser Vollständigkeit bisher nicht für möglich gehaltenen Ausweg, den ich aus eigenen Kräften (soweit die Tuberkulose nicht zu "meinen Kräften" gehört) nicht gefunden hätte, sehe ich jetzt. Ich sehe ihn nur, ich glaube ihn nur zu sehn, ich gehe ihn noch nicht. Er besteht darin, er würde darin bestehn, dass ich nicht nur privat, nicht nur durch Beiseite-Sprechen, sondern offen, durch mein Verhalten eingestehe, dass ich mich hier nicht bewähren kann. Ich muß ja zu diesem Zweck nichts anderes tun, als die Umrisse meines bisherigen Lebens mit voller Entschiedenheit nachziehen. Die nächste Folge würde dann sein, dass ich mich zusammenhalte, mich nicht in Sinnlosem verzettle, den Blick frei halte.

    Das wäre die Absicht, die, selbst wenn sie ausgeführt wäre - sie ist es nicht - nichts "Bewundernswertes" an sich hätte, nur etwas sehr Folgerichtiges. Nennst Du es bewundernswert, macht es mich eitel, macht mir Orgien der Eitelkeit, trotzdem ich es besser weiß. Das ist schade. Schon das Nichtige eines Kartenhauses fällt zusammen, wenn der Künstler sich auf bläst. (Glücklicherweise ein falscher Vergleich.)

    Deinen Weg nun sehe ich, wenn es hier ein Sehen gibt, ganz anders. Du bewährst Dich, also bewahre Dich. Du kannst das Widerstrebende zusammenhalten, ich nicht oder wenigstens noch nicht. Unsere immer enger werdende Nähe wird darin bestehn, dass wir beide "gehn"; bisher fühlte ich mich zu oft als Deine Last.

    Was Du "Verdacht" nennst, scheint mir manchmal nur das Spiel überschüssiger Kräfte zu sein, die Du, bei noch unvollständiger Konzentration, Deiner Literatur oder dem Zionismus, die ja eines sind, vorenthältst. In diesem Sinne also, wenn Du es willst, ein "begründeter Verdacht".

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    Damit, dass Deine Frau die Geschichte vorliest, bin ich natürlich einverstanden, mit der Veranstaltung selbst gar nicht. Der Einwand der gleiche wie gegen Frankfurt. Du hast das Recht aufzutreten, ich, vielleicht auch Fuchs und Feigl (Adresse "Union") das Recht still zu sein, und das sollten wir ausnützen.

    Wie verhältst Du Dich zum "Daimon"? Schreibe mir bitte die Adresse von Werfel. Wenn mir eine Zeitschrift längere Zeit hindurch verlockend schien (augenblicksweise natürlich jede), so war es die von Dr. Gross, deshalb weil sie mir, wenigstens an jenem Abend, aus einem Feuer einer gewissen persönlichen Verbundenheit hervorzugehen schien. Zeichen eines persönlich aneinander gebundenen Strebens, mehr kann vielleicht eine Zeitschrift nicht sein. Aber "Daimon"? Von dem ich nichts kenne als das Bild seines Redakteurs im "Donauland".

    Wenn ich jetzt noch hinzufüge, dass ich vor einiger Zeit Werfel im Traum einen Kuß gegeben habe, falle ich mitten in das Blühersche Buch hinein. Darüber aber nächstens. Es hat mich aufgeregt, zwei Tage lang mußte ich deshalb das Lesen unterbrechen. Im übrigen hat es das mit allem Psychoanalytischem gemein, dass es im ersten Augenblick erstaunlich sättigt, man aber kurz nachher den gleichen alten Hunger wieder hat. Psychoanalytisch "natürlich" sehr leicht zu erklären: Eil-Verdrängung. Der Hofzug wird am schnellsten befördert.

    Jetzt noch: Gesundheit ausgezeichnet (nicht einmal der Professor sprach vom Süden), Besuchsankündigung lieb und gut, Geschenkauffassung sehr fragwürdig, wird nächstens widerlegt.


Franz         

Nein, die Widerlegung noch jetzt, weil sie zu schlagend ist. Wir "schenken" ausschließlich zu unserem Vergnügen, und zwar sowohl zu Euerem gefühlsmäßigen als auch materiellen Schaden. Denn wenn wir nicht "schenken", sondern verkaufen würden, würden wir natürlich viel mehr schicken als bisher, Ihr würdet durch die Differenz der hiesigen und der Prager Preise weit mehr verdienen als der Wert des "Geschenkten" beträgt und hättet außerdem mehr Lebensmittel. Das tun wir nun aber nicht, wir schädigen Euch und "schenken" rücksichtslos, weil es uns Freude macht. Duldet es deshalb. Wir schicken ja nur wenig und es wird immer weniger.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


die Geschichte: "Ein Bericht für eine Akademie".


gegen Frankfurt: Siehe Brods Brief vom 2. November 1917 und Kafkas Antwort darauf.


"Daimon": An der ab Februar 1918 erscheinenden Wiener literarischen Zeitschrift Daimon (später: Der neue Daimon, fortgesetzt als: Die Gefährten) wirkten u. a. mit: Franz Blei, Max Brod, Martin Buber, Albert Ehrenstein, Ernst Weiß und Franz Werfel.


die von Dr Gross . . . an jenem Abend: Siehe Anm. 36 oben.


seines Redakteurs: Emil Alphons Rheinhardt.


"Donauland": Diese illustrierte Monatsschrift wurde im März 1917 von Paul Siebertz und Alois Veltzé als "nicht offizielle" Publikation des Kriegsarchivs in Wien gegründet. In Stefan Zweigs Entwurf eines Geleitworts zum ersten Heft heißt es: "Ist der Krieg und seine Darstellung auch durchaus nicht als das Wesentliche der Zeitschrift gedacht, so wird nicht zu vermeiden sein, dass an einer Stelle, die Österreichs Zukunft mitschaffen will, auch Er, der große Umgestalter, der blutige Erneuerer Österreichs sein kräftiges Wort mitspreche und seine Ziele und Verdienste erörtere. Aber die Kunst, die zeitlose, soll hier eben so zuhause sein wie dieser harte Gast..." (Stefan Zweig, Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler, hrsg. von J. B. Berlin, H.-U. Lindken und D. A. Prater, Frankfurt: S. Fischer 1987, S. 343).-Der Literaturhistoriker Josef Körner (1888-1950), der an der Redaktion des literarischen Teils dieser Zeitschrift beteiligt war, hatte im Septemberheft 1917 den Aufsatz "Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag" veröffentlicht, in dem er über Kafka u. a. schreibt: "Die Verwandlung . . . gehört zu dem Großartigsten, was die neuere Erzählkunst hervorgebracht hat" (siehe FB 150f.). Körner hatte ihn schon vor dem Ausbruch seiner Krankheit in Prag um einen Beitrag für Donauland gebeten (siehe Br 210); hierauf bezieht sich vermutlich folgender Brief Kafkas (unveröffentl.; DLA Marbach) aus Zürau (der in dem Fall an den Herausgeber Paul Siebertz gerichtet sein dürfte):


Sehr geehrter Herr!

Sie sind so freundlich mich in Ihrem Schreiben, das ich hier verspätet bekommen habe, an meine Zusage der Mitarbeiterschaft zu erinnern. Ich gab diese Zusage damals in gutem Glauben, kurz darauf haben sich meine Verhältnisse in einer solchen Weise geändert, dass ich mich nicht mehr mit ruhigem Gewissen an einer litterarischen Zeitschrift beteiligen kann. Daß ich trotzdem die Zusendung der Zeitschrift, für die ich Ihnen herzlich danke, einfach hinnahm, ist allerdings eine nicht zu entschuldigende Schuld.

Hochachtungsvoll

F Kafka


Als Kafka Anfang Dezember 1917 zum zweiten Mal durch Körner zur Mitarbeit aufgefordert wurde (siehe Kafkas Brief vom 5. Dezember 1917 unten), lehnte er mit der größten Entschiedenheit ab: "Sie erlauben mir gewiß ein offenes Wort: D [onauland]. scheint mir eine unheilbare Lüge zu sein, es kann die besten Leute um sich haben, der litterarische Teil kann, wie es von Ihnen zweifellos geschehen wird, mit bester Absicht und Kraft geführt werden - das Unreine kann nicht rein gemacht werden, wenn er aus seiner Quelle notwendiger Weise immer neue Unreinheit hervorbringen muß" (Br 210).


das Blühersche Buch: Es handelt sich um eines der beiden Bücher von Hans Blüher die Brod in seinem Brief vom 4. Oktober 1917 erwähnt und kommentiert hatte: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft Bd. I: Der Typus inversus, Jena: Diederichs 1917 oder Führer und Volk in der Jugendbewegung, Jena: Diederichs 1917.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at