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[An Elsa und Max Brod]

[Zürau, ca. 3.10.1917]

[An:] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs:] Dr Kafka Zürau P. Flöhau b. Podersam


Liebe Frau Elsa, Sie wundern sich, dass es Ihnen nicht gelingt, den Sinn der "Lucerna" herauszusagen? Darüber kann man sich doch nur freuen. Das, was dort geschieht, geschieht gewissermaßen auf einer Fensterbrüstung der Menschheit; hält man sich zu lange dort oben auf, muß man fallen; aber dann ist es doch besser, herein ins Zimmer zu fallen, als hinaus ins Leere. Es ist durchaus ein Äußerstes und Wagner vertritt es. Auf dem Bild ist er entwaffnend, selbst das Vor-sich-Ausspeien übernimmt er noch, wie seine Lippenstellung in Bild und Wirklichkeit zeigt; Sie deuten das scheinbare Lächeln falsch. Übrigens ist er nicht ganz und gar einzig, wie Sie zu glauben scheinen. Ich will ihn durch den Vergleich mit einem Schwein gar nicht beschimpfen, aber an Merkwürdigkeit, Entschiedenheit, Selbstvergessenheit, Süßigkeit und was noch zu seinem Amt gehört, steht er in der Weltordnung vielleicht doch mit dem Schwein in einer Reihe. Haben Sie ein Schwein in der Nähe so genau angesehn wie Wagner? Es ist erstaunlich. Das Gesicht, ein Menschengesicht, bei dem die Unterlippe über das Kinn hinunter, die Oberlippe, unbeschadet der Augen- und Nasenlöcher, bis zur Stirn hinaufgestülpt ist. Und mit diesem Maul-Gesicht wühlt das Schwein tatsächlich in der Erde. Das ist ja an sich selbstverständlich und das Schwein wäre merkwürdig, welches das nicht täte, aber Sie müssen das mir, der es jetzt öfters neben sich gesehn hat, glauben: noch merkwürdiger ist es, dass es das tut. Man sollte doch meinen, um irgendeine Feststellung vorzunehmen, genüge es, wenn man das Fragliche mit dem Fuß betastet oder dazu riecht oder im Notfall es in der Nähe beschnuppert - nein, das alles genügt ihm nicht, vielmehr das Schwein hält sich damit gar nicht auf, sondern fährt gleich und kräftig mit dem Maul hinein, und ist es in etwas Ekelhaftes hineingefahren - rings um mich liegen die Ablagerungen meiner Freunde, der Ziegen und Gänse - schnauft es vor Glück. Und - das vor allem erinnert mich irgendwie an Wagner - das Schwein ist am Körper nicht schmutzig, es ist sogar nett (ohne dass allerdings die Nettigkeit appetitlich wäre), es hat elegante, zart auftretende Füße und beherrscht seinen Körper irgendwie aus einem einzigen Schwung heraus, - nur eben sein edelster Teil, das Maul, ist unrettbar schweinisch.

    Sie sehen, liebe Frau Elsa, auch wir in Zürau haben unsere "Lucerna" und ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen zum Dank für das Wagnerbild einen Schinken unseres Schweinchens schicken könnte, aber erstens gehört's mir nicht und zweitens nimmt es bei allem Wohlleben so langsam zu, dass es zu unserer (Ottlas und meiner) Freude noch lange nicht geschlachtet werden kann.

    Mir geht es recht gut zwischen all den Tieren. Heute nachmittag habe ich Ziegen gefüttert. Auf meinem Platz stehn einige Sträucher, die schmackhaftesten Blätter sind für die Ziegen zu hoch oben und da habe ich den Ziegen die Zweige niedergehalten. Diese Ziegen also - sind äußerlich vollkommen jüdische Typen, meistens Ärzte, doch gibt es auch Annäherungen an Advokaten, polnische Juden und vereinzelt auch junge Mädchen. Besonders Dr. Mühlstein, der Arzt, der mich behandelt, ist stark unter ihnen vertreten. Das aus drei jüdischen Ärzten bestehende Konsilium, das ich heute gefüttert habe, war so mit mir zufrieden, dass es sich abend kaum forttreiben lassen wollte, um gemolken zu werden. So enden friedlich ihre und meine Tage.

    Beschämen Sie mich nicht durch die Erwähnung des Mehls. Es ist mein ernstliches Leid, dass ich nichts Wesentliches für Sie verschaffen kann, trotzdem es bei einiger Geschicklichkeit möglich sein müßte.

    Mit herzlichsten Grüße Ihr


Franz K.        
 

Lieber Max, vielen Dank für die Ziehtochter, sie wird mein morgiges Liegestuhlvergnügen sein. - Sonderbar die Nachricht von Schreiber. Übrigens war, wie ich jetzt lese, auch Flauberts Vater tuberkulös, es mag sich also damals manches Jahr im Geheimen um die Frage gehandelt haben, ob die Lunge des Kindes flöten geht (ich schlage diesen Ausdruck für "Rasseln" vor) oder ob es Flaubert wird. - Was Du für Grünberg tust, ist mir sehr recht. Was für eine Freude er haben wird, wenns gelingt. - Keine neuen Nachrichten von Deiner Novelle? - Von mir müßtest Du in der letzten Zeit zwei Briefe bekommen haben. - Ich komme Ende Oktober nach Prag.


Franz        


Ich lese den Brief noch einmal, eigentlich kein Brief an eine Frau, mußt ihn nicht zeigen, Wagner nicht ich ist der Schuldige.

Erschien vorige Woche, also am 28. September eine "Selbstwehr"?



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Lucerna": Dieses Prager Kabarett haben Brod und Kafka in früheren Jahren häufig gemeinsam besucht. Siehe 1910 Anm. 4.


Dr. Mühlstein: Prager Internist, den Kafka im August 1916 besucht hatte (H 238). Bei einer Untersuchung im späten Dezember 1917 sprach er Kafka "die moralische Berechtigung" zu, seine Pensionierung zu verlangen (O 47).


die Ziehtochter: Siehe Anm. 20 oben.


wie ich jetzt lese: Vgl. T 534.


Deiner Novelle: Siehe Anm. 6 oben.


"Selbstwehr": Die seit 1907 in Prag erscheinende "Unabhängige jüdische Wochenschrift" Selbstwehr hat Kafka während und nach dem Krieg regelmäßig gelesen. Zur Geschichte und Bedeutung dieser zionistischen Wochenschrift, die ab Herbst 1919 von Felix Weltsch geleitet wurde, siehe BiS.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at