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[Von Elsa und Max Brod]

[Prag, ca. 1.10.1917]


Lieber Franz Kafka! - Dieses ist der zweite Brief den ich Ihnen schreibe, den ersten habe ich zerrissen. Ich wollte Ihnen nämlich mit aller Gewalt eine Vorstellung des gestrigen Kabarettabends nahebringen und es gieng nicht, meine Feder ist zu schwach! Wir haben viel an Sie gedacht, besonders ich gestern abends, ich dachte, ohne Ihre traurig ergebene und wieder gleich lustig aufblitzende Miene bei solchen Darbietungen, würde es uns nicht Spaß machen. Es war aber doch hübsch, Wagner enttäuscht nicht, sein süßes Bildchen ist beiliegend. - Wir kamen etwas spät, Ferdi den Liliputaner haben wir versäumt, doch sahen wir ihn dann im Tabarin, da klebte er dummdreist an einer Brüstung im Zuschauerraum. - Ein gutes Theaterstück und beinah gar nicht obszön, Sie hätten nicht einmal erröten müssen. Müller spielte so gut, mit einer kollossalen Schmafuheit. - Aber eben dieses Stück wollte ich Sie mitgenießen lassen, d.h. die Stimmung, jedoch es mißlang, also genug davon! - Ein Mimiker trat auf: als Andreas Hofer (man spielte dröhnend "zu Mantua in Banden") als General Dewett (es ertönte der Burenmarsch) u.s.w. Dann kündigte er an: ein guter alter Bekannter, und wer erschien hinter der Brüstung!: Kaiser Franz Joseph winkte uns mit einem Taschentuch aus dem Jenseits zu wie aus dem Eisenbahncupé (Maxens Vergleich!) Einige Chansonetten "brachten uns" hübsche Sachen. - Ein Scherenschleifercouplet, von einem Humoristen vorgetragen, mußte gar nicht zweideutig genommen werden, es hatte auch so einen hübschen Sinn. Max machte ihm am nächsten Tag so gut das Scherenschleifensummen nach! - Im Tabarin gab es eine fabelhafte Nackttänzerin und Tanzen in jeder Facon und Aufmachung. Und die Schrammeln sangen einzeln im Publikum, sie stellten sich zu bestimmten Tischen und sangen ein oder zwei Leuten zu, ihnen starr lächelnd ins Gesicht blickend mit Hoffnung auf Extraentlohnung. Und alles dies und noch mehr hielt Wagner in der Hand und war überall, immer wieder ertönten aus einer Saalecke od. hoch oben von der Galerie seine aufmunternden Zurufe; nicht seine Schuld ist es, dass wir nicht in die Stimmung kamen, die er sich für uns und auch für sich wünschte. Wir sahen zu viel! - Er ist jetzt immerhin viel ruhiger, geht nicht so sehr aus sich heraus wie einst, finden Sie nicht? -- Jetzt müssen Sie bald ganz gesund werden, zumindest für Kabarettbesuch geeignet. - Wie geht es Ihnen? Viele Grüße an Ottla u. Sie! Dank für das gute Mehl! Ihre

Elsa Brod        
 


Lieber Franz -

Beiliegend der erste Abdruck des Textbuches, der noch korrigiert wird. Immerhin haben sie mir nur sieben Stellen verpatzt z. B. die Schlußworte des 2. Aktes. - Brief und Drucksachen von mir hast du wohl erhalten? Auf die Antwort bin ich sehr gespannt. Wie geht es dir? -Weltsch ist glücklich übersiedelt und etwas ruhiger. - Grünberg hat sich mit einem großen selbstbiographischen Ms. bei mir eingestellt, das mir so gefällt, dass ich es dem Verlag Georg Müller empfehlen will. Ich kam darauf, weil der Verlag eine Polnische Bibliothek ediert. - Wann bist du in Prag zu sehen?

    Herzlichst dich und deine Schwester grüßend

Max        


P. S.

Adolf Schreiber ist für ein Jahr vom Militär beurlaubt. Sein Befund lautet: geschlossene Tuberculose beider Oberlappen mit Dämpfung, abgeschwächtem Atem und Knisterrasseln. - Das Schönste dabei ist, dass er tatsächlich vor 1 Jahr einen Lungenspitzenkatarrh überstanden hat; doch hatte er ihn schon ganz vergessen, ist jetzt ganz gesund und nur für Militärzwecke hat es gute Dienste geleistet, da auch ein gewesener Lungenspitzenkatarrh noch konstatiert werden kann. - Wenn man näher hinsieht, hat jeder Mensch schon Tuberkulose gehabt.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Wagner: Rolf Wagner, Direktor des Prager Kabaretts "Lucerna".


des Textbuches: Die deutsche Fassung des Librettos von Janáčeks Oper Její pastorkyna ("Ihre Ziehtochter"). Anschließend an die erfolgreiche Aufführung in Prag 1916 hatte der Komponist Brod gebeten, sein Textbuch - das er nach dem gleichnamigen Drama von Gabriela Preissová (1862-1946) verfaßt hatte - ins Deutsche zu übertragen (SL 271). Das deutsche Textbuch erschien anläßlich der Wiener Erstaufführung am 16. Februar 1918 unter dem Titel Jenufa (Ihre Ziehtochter) mit dem Vermerk "Deutsche Übersetzung von Max Brod. Für die Wiener Hofoper textlich eingerichtet von Hugo Reichenberger". Als Einleitung zum Text diente ein Essay Brods "Über Janáčeks Wortmelodie". Vgl. 1918 Anm. 46.


Grünberg: Der ostjüdische Schriftsteller Abraham Grünberg aus Siedlce (im russischen Polen), "der meiner Meinung nach" - so Kafka in seinem Tagebuch vom November 1915 - "ein sehr bedeutender Mensch ist und aus mir unzugänglichen Gründen fast allgemein unterschätzt wird" (T 487). Zumindest jener Teil des hier erwähnten "autobiographischen Ms.", der das große Pogrom von Siedlce im Jahre 1906 schildert, war Kafka schon bekannt: Grünberg hatte nämlich Ende Oktober 1916 die Broschüre Ein jüdisch-polnisch-russisches Jubiläum als Privatdruck in Prag erscheinen lassen und Kafka ein Exemplar mit folgender Widmung geschenkt:

    Dem geehrten Herrn Dr. u. Schriftsteller

    Franz Kafka

    Nicht Nationaljude sein, heißt nur zwei oder drei Generationen zurückdenken wollen

    Abraham Grünberg Prag, im Monate Marcheschwan 5677-29/XI-16.

Brod hatte diese Broschüre besprochen ("Memoiren eines Flüchtlings", PragerTagblatt, 6. 12.1916. S.6).


Adolf Schreiber: Über Schreiber (1883-1920), dem Brod seit den Jugendjahren nahegestanden hatte, verfaßte er die Monographie Adolf Schreiber. Ein Musikerschicksal, Berlin: Welt-Verlag 1921. Vgl. F 711.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at