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Brief an Max Brod

[Zürau, 18. 9. 1917]


Lieber Max, dieser feine Instinkt, den ich ebenso habe wie Du! Ein Geier, Ruhe suchend, fliege ich oben und lasse mich schnurgerade in dieses Zimmer hinunter, dem gegenüber ein Klavier, wild die Pedale schlagend, jetzt spielt, gewiß das einzige Klavier weit im Land. Aber ich werfe es, leider nur bildlich, zur Mischung in das viele Gute, das mir hier gegeben wird.

    Unser Briefwechsel kann sehr einfach sein; ich schreibe Meines, Du Deines und das ist schon Antwort, Urteil, Trost, Trostlosigkeit, wie man will. Es ist das gleiche Messer, an dessen Schärfe sich unsere Hälse, armer Tauben Hälse, einer hier, einer dort, zerschneiden. Aber so langsam, so aufreizend, so Blut sparend, so Herz quälend, so Herzen quälend.

    Das Moralische ist hiebei vielleicht das Letzte oder vielmehr nicht einmal das Letzte, das Blut ist das Erste und das Zweite und das Letzte. Es handelt sich darum, wieviel Leidenschaft da ist, wieviel Zeit nötig ist, um die Herzwände genügend dünn zu klopfen, d.h. wenn die Lunge dem Herzen nicht zuvor kommt.

    F. hat sich mit ein paar Zeilen angekündigt. Ich fasse sie nicht, sie ist außerordentlich, oder besser: ich fasse sie, aber kann sie nicht halten. Ich umlaufe und umbelle sie, wie ein nervöser Hund eine Statue oder um das ebenso wahre Gegenbild zu zeigen: ich sehe sie an wie ein ausgestopftes Tier den ruhig in seinem Zimmer lebenden Menschen ansieht. Halbwahrheiten, tausendstel Wahrheiten. Wahr ist nur, dass F. wahrscheinlich kommt.

    Es bedrängt mich so vieles, ich finde keinen Ausweg. Ist es falsche Hoffnung, Selbsttäuschung, dass ich immer hier bleiben wollte, ich meine, auf dem Land, weit von der Bahn, nahe dem unauflösbaren Abend, der herunterkommt, ohne dass sich jemand oder etwas im geringsten gegen ihn wehrt? Wenn es Selbsttäuschung ist, dann lockt mich damit mein Blut zu einer neuen Verkörperung meines Onkels, des Landarztes, den ich (in aller und allergrößter Teilnahme) manchmal den "Zwitscherer" nenne, weil er einen so unmenschlich dünnen, junggesellenmäßigen, aus verengter Kehle kommenden, vogelartigen Witz hat, der ihn nie verläßt. Und er lebt so auf dem Land, unausreißbar, zufrieden, so wie einen eben ein leise rauschender Irrsinn zufrieden machen kann, den man für die Melodie des Lebens hält. Ist aber das Verlangen nach dem Lande keine Selbsttäuschung, dann ist es etwas Gutes. Darf ich das aber erwarten, mit 34 Jahren, höchst fraglicher Lunge und noch fraglicheren menschlichen Beziehungen? Landarzt ist wahrscheinlicher; willst Du Bestätigung, ist gleich der Fluch des Vaters da; wunderschöner nächtlicher Anblick, wenn die Hoffnung mit dem Vater kämpft.

    Die Absichten (wir lassen inzwischen die Kämpfenden), die Du mit der Novelle hast, entsprechen ganz meinem Wunsch. Die Novelle ist zu Großem bestimmt. Werden sich aber diesen Absichten gegenüber die doch immerhin leichtfertigen zwei ersten Kapitel behaupten können? Meinem Gefühl nach in keiner Weise. Was sind es für 3 Seiten, die Du geschrieben hast? Entscheiden sie im Ganzen etwas? dass es Tycho widerlegen wird, ist ein Schmerz? Es wird ihn, da alles Wahre unwiderleglich ist, nicht widerlegen, nur niederwerfen vielleicht. Ist es aber, wie alle Kriegsberichterstatter schreiben, nicht die noch immer beste Art des Angriffs: aufstehn, springen, niederwerfen? Ein Vorgang, der gegenüber der ungeheueren Bastion unaufhörlich wiederholt werden muß, bis man im letzten Band der Gesamtausgabe glückselig müde niederfällt oder - ungünstigerenfalls - in den Knien bleibt.

    Das ist nicht traurig gemeint. Ich bin auch nicht wesentlich traurig. Mit Ottla lebe ich in kleiner guter Ehe; Ehe nicht auf Grund des üblichen gewaltsamen Stromschlusses, sondern des mit kleinen Windungen geradeaus Hinströmens. Wir haben eine hübsche Wirtschaft, in der es Euch, wie ich hoffe, gefallen wird. Ich werde einiges für Euch, Felix und Oskar zu sparen suchen, es ist nicht leicht, da nicht viel hier ist und die vielen Familienesser das erste Anrecht haben. Aber etwas wird es doch, muß aber persönlich abgeholt werden.

    Ja, noch meine Krankheit. Kein Fieber, Gewicht bei der Ankunft 61½ habe wohl schon zugenommen. Schönes Wetter. Lag viel in der Sonne. Entbehre vorläufig die Schweiz nicht, über die Du übrigens nur vorjährige Nachrichten haben kannst.

Alles Gute, irgendeinen vom Himmel herunterregnenden Trost!

Franz        
 


Brauchst Du einen Briefvermittler, kann ich mein Schreibmaschinenfräulein sehr gut dazu anleiten.

Du hast doch wohl schon einen Brief von mir. Ein Briefweg dauert 3 bis 4 Tage.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


meines Onkels: Siegfried Löwy (siehe 1907 Anm. 4).


mit der Novelle: Offenbar handelt es sich um die Arbeit, die sich zum Roman Das große Wagnis, Leipzig und Wien: Kurt Wolff 1918, entwikkelt hat.


mein Schreibmaschinenfräulein: Kafkas Sekretärin in der Versicherungsanstalt, Fräulein Kaiser.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at