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Brief an Max Brod

[Zürau, Mitte September 1917]


Lieber Max, am ersten Tag kam ich nicht zum Schreiben, weil es mir allzusehr gefiel, auch wollte ich nicht übertreiben, wie ich es hätte tun müssen, ich hätte dem Bösen damit das Stichwort gegeben. Heute aber bekommt alles schon ein natürliches Aussehn, die innern Schwächen (nicht die Krankheit, von der weiß ich vorläufig fast nichts) melden sich, aus dem Hof gegenüber kommt zeitweilig das gesammelte Geschrei der Arche Noah, ein ewiger Klempfner klempft, Appetit habe ich keinen und esse zu viel, es gibt kein Abendlicht u.s.w. Aber das Gute ist doch weit in der Überzahl, soweit ich es bis jetzt überblicke: Ottla trägt mich wirklich förmlich auf ihren Flügeln durch die schwierige Welt, das Zimmer (allerdings nach Nordost gehend) ist ausgezeichnet, luftig, warm und das alles bei fast vollkommener (eben nicht ganz vollkomener) Hausstille, alles was ich essen soll, steht in Fülle und Güte um mich herum (nur die Lippen krampfen sich dagegen, so geht es mir aber in den ersten Veränderungstagen immer) und die Freiheit, die Freiheit vor allem.

    Allerdings ist hier noch die Wunde, deren Sinnbild nur die Lungenwunde ist. Du mißverstehst es Max nach Deinen letzten Worten im Hausflur, aber ich mißverstehe es auch vielleicht und es gibt (so wird es auch bei Deinen innern Angelegenheiten sein) überhaupt kein Verständnis solchen Dingen gegenüber, weil es keinen Überblick gibt, so verwühlt und immer in Bewegung ist die riesige, im Wachstum nicht aufhörende Masse. Jammer, Jammer und gleichzeitig nichts anderes als das eigene Wesen, und wäre der Jammer endlich aufgeknotet (solche Arbeit können vielleicht nur Frauen leisten), zerfielen ich und Du.

    Jedenfalls verhalte ich mich heute zu der Tuberkulose, wie ein Kind zu den Rockfalten der Mutter, an die es sich hält. Kommt die Krankheit von der Mutter, stimmt es noch besser und die Mutter hätte mir in ihrer unendlichen Sorgfalt, weit unter ihrem Verständnis der Sache, auch noch diesen Dienst getan. Immerfort suche ich eine Erklärung der Krankheit, denn selbst erjagt habe ich sie doch nicht. Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. "So geht es nicht weiter" hat das Gehirn gesagt und nach 5 Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt, zu helfen.

    Aber das Ganze ist auch in dieser Form ganz falsch, wenn ich will. Erkenntnis der ersten Stufe. Der ersten Stufe jener Treppe, auf deren Höhe mir als Lohn und Sinn meines menschlichen (dann allerdings nahezu napoleonischen) Daseins das Ehebett ruhig aufgeschlagen wird. Es wird nicht aufgeschlagen werden und ich komme, so ist es bestimmt, nicht über Korsika hinaus.

    Es sind das übrigens nicht Zürauer Erkenntnisse, sie kommen noch von der Eisenbahnfahrt her, auf welcher die Briefkarte, die ich Dir gezeigt habe, der schwerste Teil meines Gepäcks war. Ich werde aber natürlich auch hier darüber nachzudenken nicht aufhören.

    Grüße alle und besonders auch Deine Frau vom Tartuff. Sie hat keinen schlechten Blick, aber zu konzentriert, sie sieht nur den Kern; den Ausstrahlungen zu folgen, die ja eben den Kern fliehen, ist ihr zu mühsam.

Herzlichst Franz        
 


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Zürau: Nach seiner Beurlaubung wegen Krankheit ist Kafka zu seiner Schwester Ottla in Zürau (bei Saaz in Nordwestböhmen) gefahren, wo sie seit April 1917 das landwirtschaftliche Gut ihres Schwagers Karl Hermann bewirtschaftete.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at