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[An Ottla Kafka]

[Prag, Dezember 1916]
 


Liebe Ottla bitte schicke den Brief im Couvert an Herrn Oberinspektor Eugen Pfohl,  a b e r   s o f o r t, wenn es irgendwie möglich ist, sonst sieht es aus als hätte ich verschlafen und die Sache nachträglich erfunden (während ich sie doch vorher erfunden habe) Es ist nämlich eine Ausrede, aber eine annehmbare. Ich war zu lange oben bis ½ 3 etwa und habe dann keinen Augenblick geschlafen. Bin trotzdem in ganz guter Verfassung wenn ich jetzt noch bis 10 Uhr etwa im Bett bleibe, tue ich es nicht deshalb weil mir später besser werden wird oder weil ich noch zu schlafen hoffe, sondern weil dann der Vormittag im Bureau nicht so lang sein wird und weil ich (als Lügner) mehr Anspruch an Schonung dort habe. Oben habe ich weder gut noch viel geschrieben, aber froh hätte ich gewußt dass ich früh zuhaus bleibe, wäre ich noch ungeheur gerne dort geblieben. Die Angst vor dem nächsten Tag verdirbt mir eben alles; erzwingt aber auch vielleicht alles; wer kann dort in dem Dunkel die Unterschiede erkennen!

Also gleich den Entschuldigungsbrief wegschicken!

Franz


Das Petroleum bis zum letzten Tropfen verbraucht.




Datierung: Vor dem 8. Dezember 1916 kann das Schreiben nicht entstanden sein, weil Kafka bis zu diesem Tag spätestens gegen 10 Uhr sein Häuschen "oben" in der Alchimistengasse verließ (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 34 und F 747), wohl aber in den folgenden Wochen, wo er gewöhnlich dort bis gegen Mitternacht schrieb (vgl. F 745 und 751). Dazu würde passen, dass Kafka ungefähr zur Monatsmitte zweimal Bemerkungen über sein Schaffen macht, deren Tendenz mit dem hier Geäußerten übereinstimmt (Vgl. F 746 f.).

Da Kafka seit März 1915 in seinem Zimmer in der Langen Gasse, also außerhalb der elterlichen Wohnung, schlief (vgl. F 629), mußte Ottla schriftlich beauftragt werden, den Entschuldigungsbrief sofort am frühen Morgen an den Dienstvorgesetzten zu schicken (Rohrpost). Vgl. auch die Anmerkungen zu Nr. 48 u. 57.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at