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Brief an Felice Bauer

[Briefe an Felice ..., Ausg. 1968: Ende Dezember 1916 / Anfang Januar 1917]
[Briefe an Felice ..., Ausg. 2015: ... vermutlich Februar 1917]


Liebste, also meine Wohnungsgeschichte. Ein gewaltiges Thema. Es erschreckt mich, ich werde es nicht bewältigen können. Zu groß für mich. Nur ein Tausendstel werde ich darstellen können und davon nur ein Tausendstel wird mir beim Schreiben gerade gegenwärtig sein und davon nur ein Tausendstel werde ich Dir begreiflich machen können und so weiter. Trotzdem, es muß sein, ich will Deinen Rat hören. Also lies genau und rate gut: Mein zweijähriges Leid kennst Du, klein zum gleichzeitigen Leid der Welt, für mich aber genügend. Ein bequemes freundliches Eckzimmer, zwei Fenster, eine Balkontüre. Aussicht auf viele Dächer und Kirchen. Erträgliche Leute, da ich sie bei einiger Übung überhaupt nicht sehen muß. Lärmende Gasse, Schwerfuhrwerke am frühesten Morgen, an das ich aber schon fast gewöhnt bin. Das Zimmer aber doch für mich unbewohnbar. Zwar liegt es am Ende eines sehr langen Vorzimmers und ist äußerlich abgesondert genug, aber es ist ein Betonhaus, ich höre oder vielmehr hörte bis über 10 Uhr hinaus das Seufzen der Nachbarn, die Unterhaltung der Tieferwohnenden, hie und da einen Krach aus der Küche. Außerdem ist über der dünnen Zimmerdecke der Boden und es ist unberechenbar, an welchen Spätnachmittagen, da ich gerade etwas arbeiten wollte, ein wäschehängendes Dienstmädchen mir förmlich, ganz unschuldig, mit dem Stiefelabsatz in den Schädel trat. Hie und da gab es auch ein Klavierspiel und im Sommer aus dem Halbkreis der andern nahegerückten Häuser Gesang, eine Violine und ein Grammophon. Annähernd vollständige Ruhe also erst von 11 Uhr nachts. Also Unmöglichkeit zum Frieden zu kommen, vollkommene Heimatlosigkeit, Brutstätte allen Wahnes, immer größere Schwäche und Aussichtslosigkeit. Wie viel ist darüber noch zu sagen, aber weiter. Im Sommer einmal ging ich mit Ottla Wohnung suchen, an die Möglichkeit wirklicher Ruhe glaubte ich nicht mehr, immerhin ich ging suchen. Wir sahen einiges auf der Kleinseite an, immerfort dachte ich, wenn doch in einem der alten Palais irgendwo in einem Bodenwinkel ein stilles Loch wäre, um sich dort endlich in Frieden auszustrecken. Nichts, wir fanden nichts Eigentliches. Zum Spaß fragten wir in dem kleinen Gäßchen nach. Ja, ein Häuschen wäre im November zu vermieten. Ottla, die auch, aber in ihrer Art, Ruhe sucht, verliebte sich in den Gedanken, das Haus zu mieten. Ich in meiner eingeborenen Schwäche riet ab. Daß auch ich dort sein könnte, daran dachte ich kaum. So klein, so schmutzig, so unbewohnbar, mit allen möglichen Mängeln. Sie bestand aber darauf, ließ es, als es von der großen Familie, die drin gewohnt hatte, ausgeräumt war, ausmalen, kaufte paar Rohrmöbel (ich kenne keinen bequemeren Stuhl als diesen), hielt es und hält es als Geheimnis vor der übrigen Familie. Zu jener Zeit etwa kam ich aus München mit neuem Mut zurück, ging in ein Wohnungsbüro, wo mir als erstes fast eine Wohnung in einem der schönsten Palais genannt wurde. Zwei Zimmer, ein Vorzimmer, dessen eine Hälfte als Badezimmer eingerichtet war. Sechshundert Kronen jährlich. Es war wie die Erfüllung eines Traumes. Ich ging hin. Zimmer hoch und schön, rot und gold, wie etwa in Versailles. Vier Fenster in einen ganz versunken stillen Hof, ein Fenster in den Garten. Der Garten! Wenn man in den Torweg des Schlosses kommt, glaubt man kaum, was man sieht. Durch das hohe Halbrund des von Karyatiden flankierten zweiten Tores sieht man von schön verteilten, gebrochen verzweigten steinernen Treppen an den großen Garten eine weite Lehne langsam und breit hinaufsteigen bis zu einer Gloriette. Nun hatte die Wohnung einen kleinen Fehler. Der bisherige Mieter, ein getrennt von seiner Frau lebender junger Mann, hatte in der Wohnung mit seinem Diener nur ein paar Monate gewirtschaftet, war dann überraschend versetzt worden (er ist Beamter), mußte von Prag weg, hatte aber in der kurzen Zeit schon so viel in der Wohnung investiert, dass er sie nicht ohne weiters aufgeben wollte. Er behielt sie deshalb und suchte jemanden, der ihm die Auslagen (Einführung des elektrischen Lichtes, Einrichtung des Badezimmers, Einbau von Schränken, Einführung eines Telephons, einen großen aufgespannten Teppich) wenigstens teilweise ersetzen würde. Ich war dieser jemand nicht. Er wollte dafür (sicherlich wenig genug) sechshundertfünfzig Kronen. Es war mir zu viel, auch waren mir die überhohen kalten Zimmer zu prachtvoll, schließlich hatte ich ja auch keine Möbel, kleinere Rücksichten kamen noch dazu. Nun fand sich aber in dem gleichen Schloß, direkt von der Verwaltung zu mieten, eine andere Wohnung, im zweiten Stock, etwas niedrigere Zimmer, Gassenaussicht, vor den Fenstern ganz nahegerückt der Hradschin. Freundlicher, menschlicher, bescheiden eingerichtet, eine zu Gast hiergewesene Komtesse, wahrscheinlich mit bescheideneren Ansprüchen, hatte hier gewohnt, die mädchenhafte, aus alten Möbeln zusammengesetzte Einrichtung stand noch da. Es waren aber Zweifel, ob die Wohnung zu haben sein wird. Das machte mich damals verzweifelt. Und ich ging in diesem Zustand in Ottlas Haus, das damals gerade fertig geworden war. Es hatte viele Mängel des Anfangs, ich habe nicht Zeit genug, um die Entwicklung zu erzählen. Heute entspricht es mir ganz und gar. In allem: der schöne Weg hinauf, die Stille dort, von einem Nachbar trennt mich nur eine sehr dünne Wand, aber der Nachbar ist still genug; ich trage mir das Abendessen hinauf und bin dort meistens bis Mitternacht; dann der Vorzug des Weges nach Hause: ich muß mich entschließen aufzuhören, ich habe dann den Weg, der mir den Kopf kühlt. Und das Leben dort: es ist etwas Besonderes, sein Haus zu haben, hinter der Welt die Tür nicht des Zimmers, nicht der Wohnung, sondern gleich des Hauses abzusperren; aus der Wohnungstür geradezu in den Schnee der stillen Gasse zu treten. Das Ganze zwanzig Kronen monatlich, von der Schwester mit allem Nötigen versorgt, von dem kleinen Blumenmädchen (Ottlas Schülerin) so geringfügig als es nötig ist bedient, alles in Ordnung und schön. Und gerade jetzt entscheidet es sich, dass die Wohnung im Schloß mir nun doch zur Verfügung steht. Der Verwalter, dem ich eine Gefälligkeit getan, ist mir sehr freundlich gesinnt. Ich bekomme jene Gassenwohnung um sechshundert, allerdings ohne Möbel, auf die ich gerechnet hatte. Es sind zwei Zimmer, ein Vorzimmer. Elektrisches Licht ist da, allerdings kein Badezimmer, keine Wanne, aber ich brauche sie auch nicht. Nun kurz die Vorteile des gegenwärtigen Standes gegenüber der Schloßwohnung: 1. der Vorteil des Alles-bleibt-beim-alten, 2. ich bin doch jetzt zufrieden, warum mir doch möglicherweise Reue schaffen, 3. Verlust des eigenen Hauses, 4. Verlust des Weges in der Nacht, der mir den Schlaf bessert, 5. ich müßte mir Möbel von der jetzt bei uns wohnenden Schwester ausborgen, für das eine Zimmer, das riesenhaft groß ist, hätte ich eigentlich nur ein Bett. Kosten der Übersiedlung, 6. jetzt wohne ich um zehn Minuten dem Büro näher. Die Schloßwohnung geht, glaube ich, nach Westen, mein Zimmer hat Morgenlicht. Dagegen Vorteile der Schloßwohnung: 1. der Vorteil des Wechsels überhaupt und des Wechsels im besonderen, 2. der Vorteil einer eigenen stillen Wohnung, 3. in der gegenwärtigen Arbeitswohnung bin ich doch nicht ganz unabhängig, eigentlich nehme ich sie doch Ottla weg; so lieb und aufopfernd sie zu mir ist, bei schlechter Laune läßt sie es wider Willen doch einmal in der Zeit merken. Allerdings wird es ihr gewiß leid tun, wenn ich nicht mehr in das Häuschen komme, im Grunde genügt es ihr, hie und da, mittag und Sonntag bis 6 Uhr dort zu sein, 4. den Nachhauseweg werde ich allerdings nicht haben, auch herausgehn wird in der Nacht schwer sein, da das Tor nicht von außen aufsperrbar ist, aber dafür kann ich in der Nacht in dem sonst nur den Herrschaften vorbehaltenen Teil des Parkes gern und gut ein Weilchen spazieren gehn, 5. nach dem Krieg will ich doch versuchen, zunächst ein Jahr Urlaub zu bekommen, gleich wird das, wenn überhaupt, wohl nicht möglich sein. Nun, dann hätten wir zwei die wunderbarste Wohnung, die ich in Prag denken kann, für Dich vorbereitet, allerdings nur für verhältnismäßig kurze Zeit, während welcher Du auch auf eigene Küche und sogar aufs Badezimmer verzichten müßtest. Trotzdem wäre es in meinem Sinn und Du könntest Dich zwei, drei Monate tief ausruhn. Und der unbeschreibliche Park etwa im Frühjahr, Sommer (Herrschaft ist weg) oder Herbst. Sichere ich mir die Wohnung aber nicht gleich jetzt, sei es dass ich hinziehe oder (wahnsinnige, alle Beamtenbegriffe übersteigende Verschwendung!) sie nur bezahle, hundertfünfzig Kronen vierteljährig, bekomme ich sie kaum mehr, eigentlich habe ich sie ja schon genommen, aber der Verwalter entläßt mich gewiß gern aus dem Wort, besonders da für ihm die Angelegenheit begreiflicherweise nicht den winzigsten Teil der Bedeutung hat wie für mich. Wie wenig habe ich gesagt. Nun aber urteile, und bald.




BriefDer Durchschlag dieses Briefes-oder Briefentwurfs-fand sich im Nachlaß Kafkas und wurde bereits von Max Brod (Biographie, S. 193 ff) veröffentlicht.


Palais: Das Schönborn-Palais auf der Kleinseite, Marktgasse (Tržiště) 365/15, in dem Kafka von Anfang März bis Ende August 1917 wohnte. Siehe Abbildungen in Janouch, Kafka und seine Welt, S. 132f.


Gloriette: Siehe Abbildung in Kafka a Praha, Nr. 28.



Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at