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Postkarte an Felice Bauer

[Prag,] 31. X. 16
 


Liebste, in den letzten Tagen hatte ich im Bureau nicht einmal Zeit zu schreiben. Dein letzter Brief war vom Freitag, heute kam nichts. - Die Kinderbibliothek darf natürlich unter Deiner Leitung nicht so arm bleiben, ich habe Dir heute deshalb als kleinen Grundstock die blauen Bändchen von Schaffstein schicken lassen. Sie werden so kartoniert sein wie Dein Peter Schlemihl, gebunden wären sie natürlich besser, aber zu teuer. Vielleicht können sie in den Werkstätten des Heims gebunden werden, ehe sie in Gebrauch kommen. Es sind Bücher für alle Altersstufen, allzu ängstliche Trennung ist ja nicht nötig. Für Knaben sind allerdings die grünen Bücher von Schaffstein, meine Lieblingsbücher, das Beste, aber alles auf einmal wollte ich nicht schicken, also diese später einmal. Unter ihnen ist z. B. ein Buch, das mir so nahegeht, als handelte es von mir oder als wäre es die Vorschrift meines Lebens, der ich entweiche oder entwichen bin (dieses Gefühl habe ich allerdings oft), das Buch heißt der Zuckerbaron, sein letztes Kapitel ist die Hauptsache. Übrigens ist es so schwer, sich zwischen Kinderbüchern zu entscheiden. Sollte ich aus meiner Erfahrung die besten Kinderbücher nennen, so werden es etwa die kleinen Hoffmannschen Bändchen sein, ein offenbarer Schund. Wie schön werden uns im Jenseits die Bücher erscheinen, die wir jetzt lesen!

Über tatsächliche Vorschläge für die Bibliothek schreibe ich Dir noch.

Franz




der Zuckerbaron : Oskar Weber, Der Zuckerbaron. Schicksale eines ehemaligen deutschen Offiziers in Südamerika. Mit Zeichnungen von Max Bürger. Schaffstein's Grüne Bändchen, Nr. 54, Köln 1914. Kafka las die Bändchen dieser Reihe besonders gern. Außer den bei Wagenbach (Biographie, S. 263) aufgeführten Nummern kannte er auch Nr. 18: Förster Flecks Erlebnisse in Rußland 1812 bis 1814 und Nr. 32: Wir Jungen von 1870/71. Vgl. Tagebücher (16. September 1915), S. 479 bzw. (15. Dezember 1913), S. 344.


kleinen Hoffmannschen Bändchen : Gemeint sind die Kinderbücher Heinrich Hoffmanns, Verfasser des Struwelpeter.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at