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Postkarte an Felice Bauer

[Prag,] 16. X.[1916]
 


Liebste, ärgerlicher Tag, durch Deinen Brief vom 13. gemildert. Für den Fall als Du es gestern nicht erraten haben solltest, ich war allein. Bin sehr weit gegangen, 5 Stunden etwa, allein und nicht genug allein, in ganz leeren Tälern und nicht genug leer. Ich spüre manchmal die Sorgen, als wenn sie mir das Blut 'aus den Schläfen trinken würden. - Der Fall Sabinchen ist allerdings heikel. Nur versteh ich einige Voraussetzungen nicht. Wozu ist die Kassa im allgemeinen bestimmt? Hat S. die 2 M entliehen und dann erst den andern davon erzählt? Wer bestimmt, wie das Geld aus der Kassa zu verwenden ist? Woher stammt das Geld? Hat die frühere Leiterin von der Sache nicht gewußt? An Sabinchens Ehrlichkeit und Hilfsbedürftigkeit zweifle ich natürlich nicht im geringsten, wenn aber nicht die Formalitäten für die Entlehnung erfüllt worden sind, so muß man doch gegenüber den andern Mädchen bedenken, dass sie ebenso ehrlich und hilfsbedürftig sein können und sich dadurch vielleicht geschädigt fühlen, dass sie nicht so nahe bei der Kassasitzen. Allerdings darf S. deshalb ihre Ehrenstelle keineswegs verlieren. Aber das Ganze wäre unmöglich, wenn alle genug Vertrauen zueinander hätten, und Du wirst, das sehe ich, viel Arbeit haben. Sabinchen und Hertha wären wohl zunächst zu besuchen.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at