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An Felice Bauer

5. X. 16
 


Liebste, endlich bei der Schreibmaschine, aber mit schlechtem Kopf, unbegreiflich, nach welchen Gesetzen das Blut in mir wütet, seit paar Tagen sind wieder alle Nerven in Aufruhr und kein Schlaf ist mir erlaubt. Gestern abend war ich bei Dr. Bergmann, er ist auf Urlaub hier, er war mein Mitschüler, ich habe ihn gern und wollte wieder einmal bei ihm sein. Kennst Du übrigens den Namen? Er hat für den Zionismus große Bedeutung. Hugo Bergmann. Jetzt wollte ich übrigens nur sagen, dass ich dort gestern abend mit meinem Kopf wie ein Verurteilter gesessen bin. Und eine kleine Zeit ging es mir doch wieder zuletzt recht gut. Nein, an Arbeit ist jetzt für mich nicht zu denken. Besonders leid tut es mir aber, dass ich infolgedessen nicht, so wie ich wollte und wie es mein Glück wäre, Dich bei Deiner Arbeit in Briefen unterstützen kann. Du dankst mir, aber ich will unvergleichlich mehr; was ich wirklich tue, ist ja nichts und jämmerlich.

Auch ein Zeichen meines Kopfes, ich frage nach Danziger und meine Steinitz. Nun ist aber wenigstens die Sache selbst gut ausgefallen.

Erst gestern habe ich erfahren, dass die gute Ausgabe der Schlemihl-Nummer der Weltliteratur nicht mehr zu haben ist, die gewöhnliche Ausgabe ist aber wohl nicht gut genug, um als Geschenk für die Kinder zu gelten. Jedenfalls werde ich Dir von ihr nur 5 Exemplare schicken lassen und mir außerdem die Ausgabe in der Inselbücherei ansehn, ob diese nicht brauchbar wäre. Doch möchte ich zuerst gerne wissen, wieviel Mädchen Du eigentlich hast.

Dein Lob der Ausstellung ist vielleicht an dem gleichen Tag geschrieben worden, wie in einer meiner letzten Karten das Lob des Alleinseins. Ich will nur hinzufügen, dass die Elemente nicht miteinander kämpfen müssen, sondern vielleicht sehr gut miteinander bauen können. Was die Ausstellung betrifft, so mag sie wohl sehr schön sein, aber vollständig ist sie gewiß nicht. Es fehlt ihr eine Schreckenskammer, deren Hauptstück z. B. eine Gruppe sein müßte, wie sie etwa eine Kusine von mir mit ihrem Mann und dem Kinderwagen darstellt. Ein gutes Mädchen sogar außergewöhnlich klug, ist sie mit zunehmendem Alter und gleichbleibender Armut irgendwie verwirrt geworden, hilflos, sie mußte heiraten und heiratete, allerdings mit Zustimmung der verschiedenartig informierten Verwandtschaft, einen Menschen, den sie bei ruhigen Sinnen gewiß nicht geheiratet hätte. Ich persönlich habe nichts gegen ihn, er kommt mir in den paar Augenblicken, in denen ich mit ihm beisammen war, sehr unterhaltend komisch vor, aber so komisch, dass man nicht etwa durch ihn blamiert würde, wenn man seine Frau ist. Die Komik ist durchaus nicht allgemein zugänglich. Es würde zu langwierig und gegenüber dem Interesse, das er für mich bis jetzt hatte, unwahr werden, wenn ich ihn ausführlich beschreiben wollte. Jedenfalls sieht er erträglich aus, eher zu gesund als krank, immer sehr zufrieden, und ist kaum älter als sie. Und nun haben sie ein Kind. Es ist ungewöhnlich stark, etwa 2 Jahre alt, weißes unschuldiges Fleisch, reiches blondes Haar, klare blaue Augen, es ist Vater und Mutter ähnlich, aber hübscher als beide. Aber es ist ganz leblos, es liegt breit und unbeweglich im Wägelchen, die Augen dreht es ziellos und gleichgültig. Es kann gar nicht sitzen, um den Mund gibt es kein Lächeln, kein Wort ist ihm zu entlocken. Wenn nun die Eltern zu beiden Seiten des Kindermädchens und des Wagens spazieren gehn, von einem Bekannten (etwa mir) wider Willen angehalten werden, die Mutter mit diesem Vater und diesem Kind belastet stehen bleibt, mit Tränen in den Augen zwischen dem Bekannten und dem Kind hin und herschaut und doch auch ein Lächeln aufbringt, um den immer zufriedenen Mann mit seinem Lachen nicht ganz allein zu lassen - kurz das gehört wohl auch in jene Ausstellung.

Aber weg davon und herzlichste Grüße

Franz




Hugo Bergmann: Hugo Bergmann Prager Philosoph Zionist, später Bibliothekar der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem und Professor au der Hebräischen Universität.


Dein Lob der Ausstellung : Das bezieht sich wahrscheinlich auf die in der Karte vom 7. September 1916 erwähnte Berliner Ausstellung >Mutter und Säugling<.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at