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Postkarte an Felice Bauer

[Prag, 3. X. 16
 


Liebste, wieder nichts, ich werde streng gehalten. Also in der Nähe des Alexanderplatzes (vielfach unseligen Angedenkens) ist das Heim. Nicht oft, aber übergenug habe ich ihn durchlaufen, durchirrt, durchnachtwandelt. Wieder kommen mir ins Gedächtnis die Telephongespräche oder Telephonmonologe, geführt von dem armen Gefangenen in der Telephonzelle des Askanischen Hofes: Nein, ich will sie doch nicht wiederholen. Dieses Gepäck wurde wirklich gerne abgeworfen in den Strom der Zeit, aber es ist doch nützlich,

wenn der vielgewundene wieder zufällig einmal vorüberkommt, die alten Dinge noch einmal in die Hand zu nehmen. Doch soll man es allerdings nicht mit den Kopfschmerzen, die ich seit paar Tagen nach einer kleinen aber genügend ruhigen Zeit herumtrage. - Der Vorwurf in der ersten Zeile ist nur aus der unvernünftigen Schreibmaschine geglitten, die vernünftigere Feder erklärt sich mit einem Brief wöchentlich zufrieden und bewertet außerdem jeden Weg ins Heim als etwas dem Brief Gleichwertiges. - Hast Du die Briefe des Hirsch? Ich glaube, es ist ein orthodoxes Hauptwerk der deutschen Juden, ich kenne es gar nicht. Welche Ausgabe?


Viele Grüße Franz


Max läßt danken und freut sich mit mir (es ist aber eine andere Freude) über Deine Arbeit im Heim.

Franz




das Heim: Das Jüdische Volksheim befand sich in einem Wohnviertel des Berliner Proletariats, in der Nähe des Alexanderplatzes. Vgl. Klara Eschelbacher, "Die Wohnungsfrage", Neue Jüdische Monatshefte, Jg. IV, Heft 11/12.


Briefe des Hirsch: Ben Usiel [Pseudonym für Samson Raphael Hirsch], Neunzehn Briefe über Judentum, herausgegeben von Samson Raphael Hirsch, 1863; 4. Auflage, Frankfurt am Main 1911.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at