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An Felice Bauer

26. IX. 16
 


Liebste, gestern und heute keine Nachricht. - Zuerst einige kurz zu beantwortende Fragen: Wieviel Abende bist Du jetzt wöchentlich im Heim und wieviel Stunden? Wie weit ist das Heim und wie fährst oder gehst Du hin? Um was handelt es sich in dem Vortrag des Dr. Lehmann über religiöse Erziehung? Du schreibst, die Mädchen wählen ihre Helferin selbst. Wo haben sie denn die Möglichkeit der Auswahl? Du bist doch nicht gewählt worden oder ist Deine Berufung nur eine versuchsweise? Und warum ist Mirjam nicht mehr Führerin? Kennst Du sie persönlich? Und was macht die zweite Dame, die sich um die Gruppe beworben hat, wahrscheinlich ist es die, die Du Rotstein nennst. Ihr teilt die Arbeit zwischen Euch und in welcher Weise? Wie verhalten sich zum Heim Deine Freundinnen, Deine Schwestern und Deine Mutter, der schon zwei Sonntage entzogen worden sind? Warum übernimmst Du das Schreiben des Jahresberichtes, eine Arbeit, die doch gewiß ein anderer hätte besorgen können und die eine außerordentlich unnötige Mehrbelastung für Dich darstellt, selbst wenn der Bericht nur eine Seite lang sein sollte? (Bei dieser Frage ist auch Eigennutz, denn diese Seite hätte besser für mich verwendet werden können). Ist Dein Chef in Berlin? Hast Du ein Hilfsmädchen und wie bewährt es sich? Warum mußtest Du wieder übersiedeln? Wohnung wird keine mehr gesucht nach dem ersten Mißerfolg? Sind Nachrichten über den Herrn Danziger gekommen? Hast Du etwas von Feigl gehört oder ihm geschrieben? Hast Du Nachricht von Deiner Schwester? (Ich nicht) - Genug gefragt für heute.

Ich habe Dir gestern schicken lassen: 10 Schlemihl aus der Weltliteratur auf dem bessern Papier, auf dem sich, wie ich hoffe, die Bilder besser ausnehmen werden. Übrigens kenne ich dieses Heft gar nicht. Außerdem wirst Du 2 Exemplare Schlemihl von Schaffstein bekommen. Diese Büchlein sind vielleicht hübscher als die aus der Weltliteratur, besonders infolge der alten Bilder, aber ich glaube, der Text ist hier nicht vollständig. Ich denke nicht, dass die Mädchen in ihren Exemplaren mitlesen sollen, sondern dass Du ihnen nach Beendigung des Schlemihl die Hefte zur Erinnerung gibst. Die Wahl ist für den Anfang schon infolge des Beziehungsreichtums der Geschichte eine gute. Allerdings kann ich mir leider die Fähigkeiten und Bedürfnisse dieser glückseligen 11- bis 14-jährigen gar nicht vorstellen. Hast Du übrigens bemerkt, dass Foerster wenigstens anfangs gar keine besondere Rücksicht auf Mädchenunterricht [nimmt? Hier bleibt Dir die Möglichkeit der Ergänzung nach Deinen Erfahrungen. Mit Max habe ich über die Lektüre Deiner Gruppe noch nicht eigentlich sprechen können, ich fürchte, für dieses Alter wird auch er nicht viel angeben können. Das einzige, was ich augenblicklich weiß, wären Geschichten aus der Bibel (oder ähnlich) von Schalom Asch. Ich kenne es nicht und was ich sonst von ihm an Kleinigkeiten gelesen habe, habe ich immer ziemlich unleidlich gefunden, dieses Buch soll aber recht gut sein. Ich werde es Dir nächstens schicken lassen. Dann denke ich, dass Du einmal mit ihnen das kleine Buch von Lichtwark: Übungen im Bilderbetrachten (oderähnlich) durchnehmen könntest, ein im Wert dem Foerster nicht unähnliches Buch, nämlich ausgezeichnet in seiner Art, darüber hinaus aber genug unzweifelbar. Auch das werde ich Dir schicken lassen.

Wenn ich von allzuviel Arbeit im Heim abriet (und was Du übernommen hast scheint schon zuviel), so dachte ich nicht etwa an das naheliegendste Bedenken, nämlich dass der allzu rasch ins Wasser Springende allzu rasch wieder herausspringt. Darin vertraue ich Dir, dass Du das nicht tust. Es ist nur die Befürchtung, dass Du Dich überarbeitest und dass bei der Vielheit Deiner Leistungen Ihre Intensität geringer werden muß. Sag mir bitte etwas darüber.

Die singende Einleitung der Stunde und den singenden Abgang halte ich für sehr gut, weiß aber nicht, warum Du selbst Dich zu singen weigern solltest. In Karlsbad hast Du doch recht gut gesungen, ich meine recht ungezwungen, während ich Dir gegenüber bei hellem Tag von Albdrücken geplagt wurde. Was soll gesungen werden ?

Was die Freiübungen anlangt, erinnere ich Dich an das Müllersche System. Du hast doch das Buch? Ich mache Dich aber darauf aufmerksam, dass die Übungen sich nicht improvisieren lassen, sondern studiert werden müssen, vorher studiert werden müssen.

Ich werde vielleicht doch in München vorlesen. Daß Du hinkommen willst (ich mache aus der bedingten Zusage im Handumdrehn eine unbedingte) ist ein starker Antrieb. Es wird aber erst im November sein. Der Umweg über Berlin ist aus einigen Gründen unmöglich, ist übrigens von mir gar nicht sehr erwünscht. Ich sehe Dich in München lieber als in Berlin, wenn ich auch Deine Reisemühe beklage, und auch das Heim sehe ich lieber durch Dich, als in Wirklichkeit. Halte das meinem ganzen Zustand und vielleicht auch meinem Wesen zugute.

Franz




Schalom Asch: Schalom Asch, Kleine Geschichten aus der Bibel, Berlin, Jüdischer Verlag, 1914.


Übungen im Bilderbetrachten: Alfred Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken noch Versuchen mit einer Schulklasse, hrsg. von der Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung, Dresden 1898.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at