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An Felice Bauer
Liebste, gestern und heute keine Nachricht. - Zuerst einige kurz zu beantwortende
Fragen: Wieviel Abende bist Du jetzt wöchentlich im Heim und wieviel
Stunden? Wie weit ist das Heim und wie fährst oder gehst Du hin? Um
was handelt es sich in dem Vortrag des Dr. Lehmann über religiöse
Erziehung? Du schreibst, die Mädchen wählen ihre Helferin selbst.
Wo haben sie denn die Möglichkeit der Auswahl? Du bist doch nicht
gewählt worden oder ist Deine Berufung nur eine versuchsweise? Und
warum ist Mirjam nicht mehr Führerin? Kennst Du sie persönlich?
Und was macht die zweite Dame, die sich um die Gruppe beworben hat, wahrscheinlich
ist es die, die Du Rotstein nennst. Ihr teilt die Arbeit zwischen Euch
und in welcher Weise? Wie verhalten sich zum Heim Deine Freundinnen, Deine
Schwestern und Deine Mutter, der schon zwei Sonntage entzogen worden sind? Warum
übernimmst Du das Schreiben des Jahresberichtes, eine Arbeit, die
doch gewiß ein anderer hätte besorgen können und die eine
außerordentlich unnötige Mehrbelastung für Dich darstellt,
selbst wenn der Bericht nur eine Seite lang sein sollte? (Bei dieser Frage
ist auch Eigennutz, denn diese Seite hätte besser für mich verwendet
werden können). Ist Dein Chef in Berlin? Hast Du ein Hilfsmädchen
und wie bewährt es sich? Warum mußtest Du wieder übersiedeln?
Wohnung wird keine mehr gesucht nach dem ersten Mißerfolg? Sind Nachrichten
über den Herrn Danziger gekommen? Hast Du etwas von Feigl gehört
oder ihm geschrieben? Hast Du Nachricht von Deiner Schwester? (Ich nicht)
- Genug gefragt für heute.
Ich habe Dir gestern schicken lassen: 10 Schlemihl aus der Weltliteratur
auf dem bessern Papier, auf dem sich, wie ich hoffe, die Bilder besser
ausnehmen werden. Übrigens kenne ich dieses Heft gar nicht. Außerdem
wirst Du 2 Exemplare Schlemihl von Schaffstein bekommen. Diese Büchlein
sind vielleicht hübscher als die aus der Weltliteratur, besonders
infolge der alten Bilder, aber ich glaube, der Text ist hier nicht vollständig.
Ich denke nicht, dass die Mädchen in ihren Exemplaren mitlesen
sollen, sondern dass Du ihnen nach Beendigung des Schlemihl die Hefte
zur Erinnerung gibst. Die Wahl ist für den Anfang schon infolge des
Beziehungsreichtums der Geschichte eine gute. Allerdings kann ich mir leider
die Fähigkeiten und Bedürfnisse dieser glückseligen 11-
bis 14-jährigen gar nicht vorstellen. Hast Du übrigens bemerkt,
dass Foerster wenigstens anfangs gar keine besondere Rücksicht
auf Mädchenunterricht [nimmt? Hier bleibt Dir die Möglichkeit
der Ergänzung nach Deinen Erfahrungen. Mit Max habe ich über
die Lektüre Deiner Gruppe noch nicht eigentlich sprechen können,
ich fürchte, für dieses Alter wird auch er nicht viel angeben
können. Das einzige, was ich augenblicklich weiß, wären
Geschichten aus der Bibel (oder ähnlich) von Schalom
Asch. Ich kenne es nicht und was ich sonst von ihm an Kleinigkeiten
gelesen habe, habe ich immer ziemlich unleidlich gefunden, dieses Buch
soll aber recht gut sein. Ich werde es Dir nächstens schicken lassen.
Dann denke ich, dass Du einmal mit ihnen das kleine Buch von Lichtwark:
Übungen im Bilderbetrachten (oderähnlich) durchnehmen
könntest, ein im Wert dem Foerster nicht unähnliches Buch, nämlich
ausgezeichnet in seiner Art, darüber hinaus aber genug unzweifelbar.
Auch das werde ich Dir schicken lassen.
Wenn ich von allzuviel Arbeit im Heim abriet (und was Du übernommen
hast scheint schon zuviel), so dachte ich nicht etwa an das naheliegendste
Bedenken, nämlich dass der allzu rasch ins Wasser Springende
allzu rasch wieder herausspringt. Darin vertraue ich Dir, dass Du
das nicht tust. Es ist nur die Befürchtung, dass Du Dich überarbeitest
und dass bei der Vielheit Deiner Leistungen Ihre Intensität geringer
werden muß. Sag mir bitte etwas darüber.
Die singende Einleitung der Stunde und den singenden Abgang halte ich für
sehr gut, weiß aber nicht, warum Du selbst Dich zu singen weigern
solltest. In Karlsbad hast Du doch recht gut gesungen, ich meine recht
ungezwungen, während ich Dir gegenüber bei hellem Tag von Albdrücken
geplagt wurde. Was soll gesungen werden ?
Was die Freiübungen anlangt, erinnere ich Dich an das Müllersche
System. Du hast doch das Buch? Ich mache Dich aber darauf aufmerksam, dass
die Übungen sich nicht improvisieren lassen, sondern studiert werden
müssen, vorher studiert werden müssen.
Ich werde vielleicht doch in München vorlesen. Daß Du hinkommen
willst (ich mache aus der bedingten Zusage im Handumdrehn eine unbedingte)
ist ein starker Antrieb. Es wird aber erst im November sein. Der Umweg
über Berlin ist aus einigen Gründen unmöglich, ist übrigens
von mir gar nicht sehr erwünscht. Ich sehe Dich in München lieber
als in Berlin, wenn ich auch Deine Reisemühe beklage, und auch das
Heim sehe ich lieber durch Dich, als in Wirklichkeit. Halte das meinem
ganzen Zustand und vielleicht auch meinem Wesen zugute.
Franz
Schalom Asch: Schalom Asch, Kleine Geschichten
aus der Bibel, Berlin, Jüdischer Verlag, 1914.
Übungen im Bilderbetrachten: Alfred Lichtwark,
Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken noch Versuchen mit einer
Schulklasse, hrsg. von der Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen
Bildung, Dresden 1898.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at