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An Felice Bauer

25. IX. 16
 


Liebste, also das Referat, hoffentlich bekommst Du es noch rechtzeitig, es wird nicht sehr gut werden, ich improvisiere es in aller Eile, da ich heute unerwartet viel zu tun hatte und überdies aus verschiedenen Gründen und Nichtgründen seit dem damaligen ersten Lesen im Foerster mich nicht weiter mit [ihm] abgegeben habe und deshalb heute, um das Referat Deines Kapitels machen zu können, auch noch die ersten 48 Seiten, die Zähne in den Lippen, durchrasen mußte. Also fangen wir an: Nein, vorher noch etwas: Auch ich glaube, dass es richtig ist, zuerst das Ganze dreiviertel lesend, einviertel redend durchzunehmen, dann aber als Referent, der seinen Teil besonders gründlich gelesen hat und diesen Vorteil den andern mitteilen will, das Ganze in kurzen Sätzen zusammenzufassen. Außerdem glaube ich nicht, dass es die Sache des Referenten ist, Zweifel, die er an der Berechtigung mancher Foersterscher Aufstellungen hat, bei dieser Gelegenheit vorzubringen, wohl aber halte ich es für nötig, dass ein eigener Abend oder Vortrag am Ende des ganzen Kurses oder vielleicht schon am Ende des theoretischen Teiles einer Besprechung der Bedenken gegen einzelnes im Foerster vorbehalten wird. Ich würde Dir dann sehr gern einen in meinem Sinne gelegenen Entwurf dazu machen. Also jetzt das Referat:

Bisher wurden die allgemeinen Gesichtspunkte der Methode einer Morallehre aufgezeigt, und zwar in 2 Hauptgruppen, in der Führung der Kinder vom Leben empor zu den Sittengesetzen und in der Führung von den Sittengesetzen zum Leben hinab. Beide, natürlich organisch zu vereinigende Methoden gelten sowohl für die eigentliche Morallehre als auch für den Wissensunterricht. Indem heute zu besprechenden Abschnitt ist die Untersuchung auf den Moralunterricht innerhalb der einzelnen Gegenstände des Wissensunterrichts eingeschränkt. Behandelt werden die Naturwissenschaften, besonders Physik, Physiologie, Astronomie, dann der Sprachunterricht, Geschichtsunterricht, Literaturgeschichte, Gesang-und Musikunterricht; der Geographieunterricht wird nur gestreift.

Inder Naturwissenschaft ist die Anknüpfung an die Sittengesetze wichtiger als anderswo, denn hier ist die eigentliche, an sich nicht notwendige, aber tatsächlich vorhandene Ursache des Abirrens von ihnen. Es werden zwei Beispiele der moralischen Gegenwirkung gezeigt: Eine Darstellung (für Kinder von 11-14 Jahren) der Sinnlosigkeit, welche alle Entdeckungen und Erfindungen bekommen müssen, wenn der sittliche Mensch nicht vorhanden ist, der sich ihrer bedienen soll. Und dann für Schüler der obersten Klassen eine Darstellung der Tat und Strafe des Prometheus als der Erreichung der Macht in Auflehnung gegen die höhere Ordnung und Abbüßung dieser Schuld.

Die Anknüpfungsmöglichkeiten in der Astronomie sind etwa: Die Untersuchung der Entdeckung des Kopernikus als einer Tat des tiefen Mißtrauens gegen den Augenschein, dieses wohltätigen Mißtrauens, das man auch bei Beurteilung des eigenen sittlichen Verhaltens wahren soll. Die Demut welche die Anerkennung der subjektiven Störungsursachen in der astronomischen Forschung zu Folge haben muß, soll auch in der Anerkennung der subjektiven Fehlerquellen im sittlichen Verhalten erstrebt werden.

Der Sprachunterricht kann begründet werden auf der Feststellung, dass es sich hier um die erste Stufe angewandter Menschenliebe handelt, die sich äußert in der Verwirklichung innerlicher Gastfreundschaft, in der Loslösung von der Beschränktheit des eigenen Empfindens, in dem Eindringen in fremde Anschauungswelt, also im Wachsen an Toleranz und Bescheidenheit. Ohne das Erleben dessen ist durch bloßes Anlernen der Sprache wenig erreicht. Das sieht man an den unversöhnlichen Gegensätzen, die innerhalb der gleichen Sprachgemeinschaft herrschen, z.B. unter den Ständen oder verschiedenen Generationen. In diesem Sinne ist auch Aneignung der Sprache des Sprachgenossen nötig.

Im gewöhnlichen Geschichtsunterricht ist ein Mißbrauch der Morallehre sowohl, als auch der Geschichte sehr häufig. Die üblichen Versuche, die Geschichte als das Beweismaterial des Satzes: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht hinzustellen, sind verfehlt und gefährlich. Man soll vielmehr unter Verzicht auf die an sich unmögliche historische Beweisführung sich nur auf die psychologische Darstellung der Verwüstung beschränken, welche die Gewalt in der Seele des Täters und des Vergewaltigten anrichtet. Nur auf diese Weise kann man den blendenden Schein des historischen Geschehens machtlos machen. (Jedenfalls Zweck heiligt die Mittel und Seite 66, zweiter Absatz, als für Foerster charakteristisch vorlesen!) Der sittliche Grundfehler des weithin verführerischen gewalttätigen Freiheitsstrebens wird an dem Beispiel Christi klar gemacht.

Zur Fortsetzung ist leider schon zu spät. Ich bin also etwa bis zu Seite 71 gekommen, bleibt also nur noch Literatur und Kunst, Musikunterricht ist ja nur auf Beispiele beschränkt, die wenigstens zum Teil wie das gute: die zweite Stimme vorgelesen werden müssen. Zum Schluß wäre dann vielleicht noch zu sagen, dass man sich natürlich im Geist des Buches von den notwendigerweise unzusammenhängenden Beispielen, welche allerdings im praktischen Teil (auf den auch oft verwiesen wird) noch sehr vermehrt werden, nicht von der Hauptlehre beirren lassen darf, welche auf Seite 68 (Anfang des letzten Absatzes) wieder einmal neu gefaßt wird. Alle Beispiele haben natürlich nur den Zweck in dieser Hauptlehre zu festigen.

Franz


Nicht zu viel Arbeit übernehmen, Felice! Warum mußt Du z. B. den Bericht schreiben?




zweite Stimme: Kapitelüberschrift in Foerster, Juqendlehre, S. 78ff.


den Bericht: Felice schrieb das Typoskript der schon erwähnten, von der Leitung des Jüdischen Volksheims herausgegebenen Broschüre. Vgl. Anm. 2 S. 701.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at