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Postkarte an Felice Bauer

[Prag,] 23. IX. 16
 


Liebste, keine Nachricht, hatte diese Woche nur Karte und Brief vom Montag. - Der schöne Tag, der heute ist, macht mich wieder ein wenig lebendiger. Vielleicht wirst auch Du wieder einen schönen, aber hoffentlich weniger anstrengenden Sonntag mit den Kindern haben. Ich wollte auch neben Dir im Koupe' sitzen und fragen, ob ich fragen darf. Vielleicht würde dann die ewige Unruhe aufhören. Mir ist viel zu oft im Geiste, wie dem Schiffbrüchigen im Körper ist, wenn er zwischen den unübersehbaren Wellen auf und ab geschwemmt wird ohne alle Barmherzigkeit. - Schon öfters wollte ich Dir davon schreiben: Erinnerst Du Dich an das kleine Prosastück, das im "Juden" hätte erscheinen sollen im Anhang an einen Aufsatz von Max? Die Sendung ging damals verloren, später wurde es dann noch einmal geschickt und schließlich hat Buber, wie es auch in meinem Sinn das allein Vernünftige war, den Aufsatz von Max mit einigen Vorbehalten angenommen, auf meinen "Traum" aber verzichtet, allerdings in einem Brief, der ehrenvoller war, als eine gewöhnliche Annahme hätte sein können [1]. .Ich erwähne das aus zwei Gründen: erstens weil mich der Brief gefreut hat und zweitens um Dir an dieser Kleinigkeit in beamtenhafter Ängstlichkeit zu zeigen, wie unsicher meine materielle und geistige Existenz ist. Selbst unter der Voraussetzung, dass ich etwas werde leisten können (ich kann vor Unruhe keine Zeile schreiben) ist es sehr leicht möglich, dass selbst Leute, die es mit mir gut meinen, mich abweisen werden, die andern natürlich umso mehr.

Herzlichste Grüße Franz




"Traum": Das aus der Arbeit am Prozeß hervorgegangene Prosastück "Ein Traum"; es hätte ursprünglich wohl im Anschluß an Max Brods Aufsatz "Unsere Literaten und die Gemeinschaft" in der Monatsschrift Der Jude I, 7 (Oktober 1916) erscheinen sollen, wurde dann aber in der von Martin Buber mitherausgegebenen Sammelschrift Das jüdische Prag, Prag, Verlag der >Selbstwehr< (Dezember 1916) veröffentlicht. Ende 1916 erschien es dann im Almanach der Neuen Jugend auf das Jahr 1917, Verlag Neue Jugend Berlin, S. 172ff. und am 6. Januar 1917 schließlich noch einmal im Prager Tagblatt (Unterhaltungs-Beilage).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at