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An Felice Bauer

18. Sept. 16
 


Liebste, das Mittagessen soll warten, ich muß Dir zuerst kurz antworten. - Du faßt die Sache gleichzeitig ruhig und eifrig an, so ist es gut. Der Sonntagsausflug kann für Dich Bedeutung, gehabt haben. Hier war es übrigens ein schöner Tag. Wir, ich und Ottla, saßen ein wenig trotz der starken uns gerade gegenüberstehenden Sonne frierend, über einem schönen, nicht allzu breiten, wechselvoll sich biegenden Tal, mit großer Fernsicht nach allen Seiten. Wir lasen Strachofl's Erinnerungen an Dostojewski. Jetzt aber werde ich nur Foersters Jugendlehre lesen. Ich kenne Foerster nicht, habe aber viel Gutes von ihm gehört, wenn mich auch das, was ich an Beispielen aus dem Buch (Felix schätzt es sehr) gehört habe, etwas betroffen gemacht hat. Es ist hier aber so, wie bei dem Wesen der ganzen Arbeit für das Heim: Man kann Pädagogik wesentlich für wirkliche Arbeit nicht lernen, man kann aber an der Hand eines vernünftigen pädagogischen Buches die eigenen pädagogischen Fähigkeiten aufrühren, kennen lernen und messen; mehr kann ein Buch nicht Lund mehr soll man von ihm nicht erwarten. Dein erster Vorschlag, der angenommen wurde, scheint mir sehr richtig, der zweite anzweifelbar. Würde Foerster im Kurs gelesen, so würde das wahrscheinlich dazu verlocken, ihn zuhause nicht oder nur flüchtig zu lesen, während es bei der Methode, die angenommen wurde, selbstverständlich ist, dass jeder, der mitkommen will, das Buch, und zwar das ganze, nicht nur sein zugeteiltes Stück liest. Deine Bedenken sind deshalb nicht so schwerwiegend. Den Foerster wird jeder aus dem Foerster kennen lernen und wenn er dann aus dem Referat außer dem Foerster auch noch einen Schimmer z. B. von Felice bekommt, so ist ja dagegen gar nichts einzuwenden, besonders wenn ich an den erwähnten Sinn denke, den meiner Meinung ein pädagogisches Buch für die Arbeit haben kann. Du scheinst übrigens einen der wichtigsten Abschnitte, dem Titel nach zu schließen, übernommen zu haben. Warum erst nach Sträuben? Arbeiten denn nicht alle mit? - Die Literatur über das Volksheim in Wien werde ich mir zu verschaffen suchen. Vielleicht könntest Du mir darüber noch einige genauere Angaben machen. Gern würde ich auch noch paar Worte über den früheren Vortrag über religiöse Erziehung hören. - War Frl. Bloch mit?

Ich verlange vielleicht zu viel Schreibarbeit von Dir neben der Unmenge sonstiger Arbeit, die auf Dir liegt. Ich kann nur sagen, wie groß auch die Arbeit ist, die ich Dir verursache, die Freude, die mir die Briefe machen, ist unendlich größer und nur eben durch den Gedanken an Deine Überarbeitung gedrückt. Ist Dein Chef in Berlin? Hast Du ein Hilfsmädchen?

Franz




Strachofl's Erinnerungen an Dostojewski: Vermutlich die Einleitung N.N. Strachoffs zu den Literarischen Schriften Dostojewskis; F. M.Dostojewski, Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 12, München 1913.


Foersters Jugendlehre: Friedrich Wilhelm Foerster, Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, Berlin 1904 (Im weiteren zitiert als >Foerster, Jugendlehre<). In einer Broschüre des Jüdischen Volksheims heißt es dazu: "Zur pädagogi sehen Ausbildung studiert die Helferschaft zur Zeit in einem Kurse Fr. W. Försters Jugendlehre da es an einem auf jüdischer Ethik aufgebauten b, pädagogischen Werke fehlt. An den Sonnabend-Abenden ... besteht Gelegenheit, die im Förster-Seminar behandelten Erziehungsprobleme vom jüdisch-religiösen Standpunkte aus zu beleuchten." Vgl. Das Jüdische Volksheim Berlin. Erster Bericht, Mai/Dezember 1916, [Berlin 1917], S. 15.


Vortrag über religiöse Erziehung hören: "Das Problem der jüdisch-religiösen Erziehung", ein Vortrag, den Siegfried Lehmann vor der Helferschaft des Heims und ihren Gästen gehalten hatte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at