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An Felice Bauer
Liebste, das Mittagessen soll warten, ich muß Dir zuerst kurz antworten. - Du
faßt die Sache gleichzeitig ruhig und eifrig an, so ist es gut. Der
Sonntagsausflug kann für Dich Bedeutung, gehabt haben. Hier war es
übrigens ein schöner Tag. Wir, ich und Ottla, saßen ein
wenig trotz der starken uns gerade gegenüberstehenden Sonne frierend,
über einem schönen, nicht allzu breiten, wechselvoll sich biegenden
Tal, mit großer Fernsicht nach allen Seiten. Wir lasen Strachofl's
Erinnerungen an Dostojewski. Jetzt aber werde ich nur Foersters
Jugendlehre lesen. Ich kenne Foerster nicht, habe aber viel Gutes von
ihm gehört, wenn mich auch das, was ich an Beispielen aus dem Buch
(Felix schätzt es sehr) gehört habe, etwas betroffen gemacht
hat. Es ist hier aber so, wie bei dem Wesen der ganzen Arbeit für
das Heim: Man kann Pädagogik wesentlich für wirkliche Arbeit
nicht lernen, man kann aber an der Hand eines vernünftigen pädagogischen
Buches die eigenen pädagogischen Fähigkeiten aufrühren,
kennen lernen und messen; mehr kann ein Buch nicht Lund mehr soll man von
ihm nicht erwarten. Dein erster Vorschlag, der angenommen wurde, scheint
mir sehr richtig, der zweite anzweifelbar. Würde Foerster im Kurs
gelesen, so würde das wahrscheinlich dazu verlocken, ihn zuhause nicht
oder nur flüchtig zu lesen, während es bei der Methode, die angenommen
wurde, selbstverständlich ist, dass jeder, der mitkommen will,
das Buch, und zwar das ganze, nicht nur sein zugeteiltes Stück liest.
Deine Bedenken sind deshalb nicht so schwerwiegend. Den Foerster wird jeder
aus dem Foerster kennen lernen und wenn er dann aus dem Referat außer
dem Foerster auch noch einen Schimmer z. B. von Felice bekommt, so ist
ja dagegen gar nichts einzuwenden, besonders wenn ich an den erwähnten
Sinn denke, den meiner Meinung ein pädagogisches Buch für die
Arbeit haben kann. Du scheinst übrigens einen der wichtigsten Abschnitte,
dem Titel nach zu schließen, übernommen zu haben. Warum erst
nach Sträuben? Arbeiten denn nicht alle mit? - Die Literatur über
das Volksheim in Wien werde ich mir zu verschaffen suchen. Vielleicht könntest
Du mir darüber noch einige genauere Angaben machen. Gern würde
ich auch noch paar Worte über den früheren Vortrag
über religiöse Erziehung hören. - War Frl. Bloch mit?
Ich verlange vielleicht zu viel Schreibarbeit von Dir neben der Unmenge
sonstiger Arbeit, die auf Dir liegt. Ich kann nur sagen, wie groß
auch die Arbeit ist, die ich Dir verursache, die Freude, die mir die Briefe
machen, ist unendlich größer und nur eben durch den Gedanken
an Deine Überarbeitung gedrückt. Ist Dein Chef in Berlin? Hast
Du ein Hilfsmädchen?
Franz
Strachofl's Erinnerungen an Dostojewski: Vermutlich
die Einleitung N.N. Strachoffs zu den Literarischen Schriften Dostojewskis;
F. M.Dostojewski, Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 12, München
1913.
Foersters Jugendlehre: Friedrich Wilhelm Foerster,
Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, Berlin
1904 (Im weiteren zitiert als >Foerster, Jugendlehre<). In einer
Broschüre des Jüdischen Volksheims heißt es dazu: "Zur
pädagogi sehen Ausbildung studiert die Helferschaft zur Zeit in einem
Kurse Fr. W. Försters Jugendlehre da es an einem auf jüdischer
Ethik aufgebauten b, pädagogischen Werke fehlt. An den Sonnabend-Abenden
... besteht Gelegenheit, die im Förster-Seminar behandelten Erziehungsprobleme
vom jüdisch-religiösen Standpunkte aus zu beleuchten."
Vgl. Das Jüdische Volksheim Berlin. Erster Bericht, Mai/Dezember
1916, [Berlin 1917], S. 15.
Vortrag über religiöse Erziehung hören:
"Das Problem der jüdisch-religiösen Erziehung", ein
Vortrag, den Siegfried Lehmann vor der Helferschaft des Heims und ihren
Gästen gehalten hatte.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at