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Postkarte an Felice Bauer

[Prag, 31. Juli [1916]
 


Liebste - schon einige Tage ohne Nachricht (ich sage lieber einige, es sind aber nur drei), im Zusammenhang mit der Arbeit, die Dir jetzt aufgebürdet wird, ist es mir umheimlich längere Zeit ohne Nachricht. Allerdings arbeitet auch mein Kopfschmerz (ich schlafe kaum länger als eine Stunde, schlafe dann wieder ein, aber wieder nicht für länger) in der gleichen Richtung; ein kühler, ruhiger Kopf blickt anders als ein heißer und schmerzender. Widerlich, widerlich, gar an einem schönen Tag. Der gestrige Sonntag (ich lag bis ½1 im Bett) war noch erträglich und ich habe den Nachmittag allein mit Spazieren, Im-Gras-Liegen, Milchtrinken, Lesen (Lublinski, Die Entstehung des Judentums) gut verbracht. Und Du? Weißt Du übrigens, daß "warte nur, balde u.s.f." nicht eigentlich ein Segensspruch ist und daß, selbst wenn er es wäre, das "balde" doch so sehr fraglich oder vielmehr kaum fraglich ist.

Viele Grüße Franz


warte nur, balde: Kafka bezieht sich auf das Gedicht von Goethe.

Ein Gleiches [Wandrers Nachtlied II]

Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Goethe selbst hat das von ihm 1780 verfaßte Gedicht im Jahr 1831 als Vorahnung des Todes gedeutet. https://norberto42.wordpress.com/2012/01/29/goethe-ein-gleiches-interpretation/ [Abgefragt am 20.3.2016]

Letzte Änderung: 20.3.2016werner.haas@univie.ac.at