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An Felice Bauer
Liebe Felice, es regnet wieder, es ist wieder Sonntag, nur bin ich nicht
in Marienbad, ein wenig losgebunden, sondern in der Grube, in Prag, und
im Kopfe wühlt es seit 5 Tagen wie schon seit langem nicht.
Über den Roman von Weiß urteilst Du vorsichtig, und
das ist richtig. Vielmehr als eine unsichere Bewegung, halb Liebe halb
Bewunderung, bringe ich auch nicht zustande. Ich weiß, das Feuer
im Kern des Buches ist wirkliches Element; um sich aber einem fremden Element
vollständig hinzugeben, dazu gehört Irrsinn. (Schlaflosigkeit
und Kopfschmerzen sind bloß Vorbereitung.) Merkwürdig aber,
dass aus solchem Ursprung ein Roman hervorkommt, den nicht wenige
fast nur als Unterhaltungsroman einschätzen zu dürfen glauben.
Sie fühlen also nicht die Messerwirkung. Du fühlst
sie. "Vielleicht kann ich diese Wahrheit nicht vertragen", schreibst
Du. Sollte ich diese Wirkung beschreiben, so versage ich. Solchen Durchdenkens
bin ich - wenigstens jetzt - nicht fähig.
Daß ich in dem Buch erscheine, glaube ich auch, aber nicht mehr als
viele andere denn darin bin ich wahrhaftig nicht vereinzelt. Es ist der
Typus, der dem westeuropäischen Juden gleich, gewissermaßen
auf der ersten Ebene, erscheint, wenn er sich zurücklehnt und die
Augen schließt. Wären solche Typen auch noch "kraftvoll",
es wären vollendete Teufel; hier zeigt sich die Vorsehung gütig.
Aber Franziska, über sie wollte ich noch etwas von Dir hören.
Hier ist doch das Verlangen des Buches. Faßt man hier zu, so hält
man den Autor beim Halse.
Daß Du nicht viel Neues darin findest, wundert mich. Ich finde so
viel, dass ich mich kaum auskenne. Die scheinbare Einförmigkeit
ist ja nur das Halbdunkel, das nötig ist, um gewisse Dinge für
Menschenaugen erträglich zu machen.
Übrigens ist es schon lange her, dass ich es zum letztenmal im
Manuskript gelesen habe. Bis ich es im Buch gelesen haben werde, schreibe
ich Dir noch.
In 14 Tagen gehe ich, besonders wenn mein Zustand nicht besser wird, auf
3 Wochen nach Marienbad. Ich wollte fest bleiben und entsprechend dem Brief
an den Direktor vorläufig nicht auf Urlaub gehn, aber ich ertrage
es nicht. Was man sich übrigens im Bureau von mir gefallen läßt,
übersteigt alle Beamtentraditionen.
Was machst Du, Felice, in Deiner freien Zeit? Du hast schon lange nicht
davon geschrieben. Warst Du bei den "Troerinnen"?
Ich war hier vor paar Tagen dabei. Werfels Arbeit ist außerordentlich,
darüber kein Wort; dagegen bin ich nach dem Eindruck der Aufführung
(Lessingtheater) ohne Zögern bereit, für den Rest meines Lebens
auf den Besuch des Theaters zu verzichten, wie ich es ja schon lange geübt
habe.
Herzlichst Franz
Roman: "Der Kampf".
Sie fühlen also nicht die Messerwirkung: Vgl.
Kafkas Brief an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904, Briefe, S. 27f.: "Ich
glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen
beißen und stechen. (...] ein Buch maß die Axt sein für
das gefrorene Meer in uns" und die kritische Bemerkung über
Ernst Weiß' Galeere in Tagebücher (9. Dezember 1913), S. 339.
bis: Im Prager Sprachgebrauch für "Wenn" verwendet - "Wenn ich es im Buch gelesen haben werde, ..."
Troerinnen: Die Troerinnen des Euripides. In deutscher
Bearbeitung von Franz Werfel. Das Stück wurde am 24. und 25. Mai 1916
in Prag als Gastspiel des Berliner Lessing-Theaters aufgeführt.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at