Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Felice Bauer

[Vermutlich 28. Mai 1916]
 


Liebe Felice, es regnet wieder, es ist wieder Sonntag, nur bin ich nicht in Marienbad, ein wenig losgebunden, sondern in der Grube, in Prag, und im Kopfe wühlt es seit 5 Tagen wie schon seit langem nicht.

Über den Roman von Weiß urteilst Du vorsichtig, und das ist richtig. Vielmehr als eine unsichere Bewegung, halb Liebe halb Bewunderung, bringe ich auch nicht zustande. Ich weiß, das Feuer im Kern des Buches ist wirkliches Element; um sich aber einem fremden Element vollständig hinzugeben, dazu gehört Irrsinn. (Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen sind bloß Vorbereitung.) Merkwürdig aber, dass aus solchem Ursprung ein Roman hervorkommt, den nicht wenige fast nur als Unterhaltungsroman einschätzen zu dürfen glauben. Sie fühlen also nicht die Messerwirkung. Du fühlst sie. "Vielleicht kann ich diese Wahrheit nicht vertragen", schreibst Du. Sollte ich diese Wirkung beschreiben, so versage ich. Solchen Durchdenkens bin ich - wenigstens jetzt - nicht fähig.

Daß ich in dem Buch erscheine, glaube ich auch, aber nicht mehr als viele andere denn darin bin ich wahrhaftig nicht vereinzelt. Es ist der Typus, der dem westeuropäischen Juden gleich, gewissermaßen auf der ersten Ebene, erscheint, wenn er sich zurücklehnt und die Augen schließt. Wären solche Typen auch noch "kraftvoll", es wären vollendete Teufel; hier zeigt sich die Vorsehung gütig.

Aber Franziska, über sie wollte ich noch etwas von Dir hören. Hier ist doch das Verlangen des Buches. Faßt man hier zu, so hält man den Autor beim Halse.

Daß Du nicht viel Neues darin findest, wundert mich. Ich finde so viel, dass ich mich kaum auskenne. Die scheinbare Einförmigkeit ist ja nur das Halbdunkel, das nötig ist, um gewisse Dinge für Menschenaugen erträglich zu machen.

Übrigens ist es schon lange her, dass ich es zum letztenmal im Manuskript gelesen habe. Bis ich es im Buch gelesen haben werde, schreibe ich Dir noch.

In 14 Tagen gehe ich, besonders wenn mein Zustand nicht besser wird, auf 3 Wochen nach Marienbad. Ich wollte fest bleiben und entsprechend dem Brief an den Direktor vorläufig nicht auf Urlaub gehn, aber ich ertrage es nicht. Was man sich übrigens im Bureau von mir gefallen läßt, übersteigt alle Beamtentraditionen.

Was machst Du, Felice, in Deiner freien Zeit? Du hast schon lange nicht davon geschrieben. Warst Du bei den "Troerinnen"? Ich war hier vor paar Tagen dabei. Werfels Arbeit ist außerordentlich, darüber kein Wort; dagegen bin ich nach dem Eindruck der Aufführung (Lessingtheater) ohne Zögern bereit, für den Rest meines Lebens auf den Besuch des Theaters zu verzichten, wie ich es ja schon lange geübt habe.

Herzlichst Franz




Roman: "Der Kampf".
Sie fühlen also nicht die Messerwirkung: Vgl. Kafkas Brief an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904, Briefe, S. 27f.: "Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. (...] ein Buch maß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns" und die kritische Bemerkung über Ernst Weiß' Galeere in Tagebücher (9. Dezember 1913), S. 339.
bis: Im Prager Sprachgebrauch für "Wenn" verwendet - "Wenn ich es im Buch gelesen haben werde, ..."
Troerinnen: Die Troerinnen des Euripides. In deutscher Bearbeitung von Franz Werfel. Das Stück wurde am 24. und 25. Mai 1916 in Prag als Gastspiel des Berliner Lessing-Theaters aufgeführt.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at