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Brief an Felice Bauer

[Briefkopf des Hotel Neptun, Marienbad] [Marienbad, vermutlich 14. Mai 1916]
 


Liebe Felice - auf dienstlicher Reise in Karlsbad und Marienbad, diesmal allein. Es gibt Gespenster der Gesellschaft und solche des Alleinseins, jetzt sind die letztern an der Reihe, besonders wenn es regnet, kühl ist und die Kutscher auf dem Hofe schwätzen. Trotzdem wollte ich gern einige Monate hier allein bleiben, um zu sehen, wie es mit mir steht. Die Zeit vergeht und man vergeht nutzlos mit ihr. Es ist recht trübselig, man muß nicht einmal eine besondere Anlage dafür haben, solche Dinge geradezu ununterbrochen zu bemerken. Ich hätte Lust, Deine Haare aus der Stirn zu streichen und Deine Augen darüber zu befragen, aber in der Nähe sinkt die Hand.

Der bisher größte Versuch - also immerhin noch Steigertragen! vom Bureau loszukommen ist fast vorüber und fast erfolglos. Die Reklamierten sollen neuestens nur einen ganz kleinen Urlaub bekommen und diesen nur ausnahms- und gnadenweise. Diesen Anlaß benützte ich - das war nicht unklug - zu einem Brief an den Direktor, in welchem ich nach ausführlicher Begründung, die ich hier übergehe, zwei Bitten stellte: erstens für den Fall, dass der Krieg im Herbst zuendegeht, dann einen langen Urlaub ohne Gehalt, zweitens für den andern Fall Aufhebung der Reklamation. Die Lügenhaftigkeit, die darin liegt (die Begründung ist noch lügenhafter gewesen), wirst Du ja erkennen, sie bringt mich gewiß auch um den Erfolg. Der Direktor hält die erste Bitte für komisch, die zweite ignoriert er, beides wahrscheinlich nicht mit Unrecht, wenn er sich an meine gekünstelte (3 mal ganz und gar überschriebene) Begründung hält. Er glaubt, das Ganze sei nur eine Erpressung des gewöhnlichen Urlaubs, bietet mir ihn sofort an und behauptet, dies seit jeher beabsichtigt zu haben. Ich antworte, der Urlaub hätte niemals zu meinen wesentlichen Hoffnungen gehört, er helfe mir fast nichts und ich könne auf ihn verzichten. Das versteht er nicht und kann es auch nicht verstehn. Er kann auch nicht begreifen, woher mein Nervenleiden stammt und fängt wie ein Nervenarzt zu sprechen an; unter anderem sagt er charakteristischer Weise, nachdem er verschiedene nervenquälende Sorgen erwähnt hat, die ihn bedrückt haben oder bedrücken, für mich aber nicht in Betracht kommen: "Außerdem müssen Sie doch wegen Ihrer Stellung und Laufbahn nicht die geringste Sorge haben, ich aber hatte in meinen Anfängen Feinde, die mir sogar diesen Lebensast ansägen wollten." Lebensast! Wo wächst mein Lebensast und wer sägt ihn an?Während er aber wirklich angesägt wird, mit anderer Säge und in anderem Holz als der Direktor meint, lüge ich weiter mit der Unverantwortlichkeit von Kindern, allerdings unter Zwang. Ich kann die einfachste praktische Aufgabe nur mittels großer sentimentaler Szenen bewältigen; aber wie schwer das ist! Was für Lügen, Kunststücke, Zeitaufwand, Reue dafür aufgebracht werden! Und wenn es mißlingt, kann man nur zustimmen. Ich kann es aber nicht anders. Wenn ich nach rechts gehen will, gehe ich zunächst nach links und strebe dann wehmüthig nach rechts (die Wehmut ergibt sich dann für alle Beteiligte[n] von selbst und ist das Widerlichste). Der Hauptgrund mag Angst sein: nach links zu gehn muß ich mich nicht fürchten, denn dorthin will ich ja eigentlich gar nicht. Ein bezeichnendes Beispiel ist die Kündigung in meiner ersten Stellung gewesen: Ich kündigte nicht, weil ich eine bessere Stellung hatte, wie es auch richtig war, sondern weil ich es nicht ertragen konnte, wie ein alter Beamter ausgeschimpft worden war. - Nun, lassen wir es heute, auch die Sonne fängt an hervorzukommen.

Herzlichste Grüße Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at