Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
Brief an Felice Bauer
Liebe Felice - auf dienstlicher Reise in Karlsbad und Marienbad, diesmal
allein. Es gibt Gespenster der Gesellschaft und solche des Alleinseins,
jetzt sind die letztern an der Reihe, besonders wenn es regnet, kühl
ist und die Kutscher auf dem Hofe schwätzen. Trotzdem wollte ich gern
einige Monate hier allein bleiben, um zu sehen, wie es mit mir steht. Die
Zeit vergeht und man vergeht nutzlos mit ihr. Es ist recht trübselig,
man muß nicht einmal eine besondere Anlage dafür haben, solche
Dinge geradezu ununterbrochen zu bemerken. Ich hätte Lust, Deine Haare
aus der Stirn zu streichen und Deine Augen darüber zu befragen, aber
in der Nähe sinkt die Hand.
Der bisher größte Versuch - also immerhin noch Steigertragen!
vom Bureau loszukommen ist fast vorüber und fast erfolglos. Die Reklamierten
sollen neuestens nur einen ganz kleinen Urlaub bekommen und diesen nur
ausnahms- und gnadenweise. Diesen Anlaß benützte ich - das war
nicht unklug - zu einem Brief an den Direktor, in welchem ich nach ausführlicher
Begründung, die ich hier übergehe, zwei Bitten stellte: erstens
für den Fall, dass der Krieg im Herbst zuendegeht, dann einen
langen Urlaub ohne Gehalt, zweitens für den andern Fall Aufhebung
der Reklamation. Die Lügenhaftigkeit, die darin liegt (die Begründung
ist noch lügenhafter gewesen), wirst Du ja erkennen, sie bringt mich
gewiß auch um den Erfolg. Der Direktor hält die erste Bitte
für komisch, die zweite ignoriert er, beides wahrscheinlich nicht
mit Unrecht, wenn er sich an meine gekünstelte (3 mal ganz und gar
überschriebene) Begründung hält. Er glaubt, das Ganze sei
nur eine Erpressung des gewöhnlichen Urlaubs, bietet mir ihn sofort
an und behauptet, dies seit jeher beabsichtigt zu haben. Ich antworte,
der Urlaub hätte niemals zu meinen wesentlichen Hoffnungen gehört,
er helfe mir fast nichts und ich könne auf ihn verzichten. Das versteht
er nicht und kann es auch nicht verstehn. Er kann auch nicht begreifen,
woher mein Nervenleiden stammt und fängt wie ein Nervenarzt zu sprechen
an; unter anderem sagt er charakteristischer Weise, nachdem er verschiedene
nervenquälende Sorgen erwähnt hat, die ihn bedrückt haben
oder bedrücken, für mich aber nicht in Betracht kommen: "Außerdem
müssen Sie doch wegen Ihrer Stellung und Laufbahn nicht die geringste
Sorge haben, ich aber hatte in meinen Anfängen Feinde, die mir sogar
diesen Lebensast ansägen wollten." Lebensast! Wo wächst
mein Lebensast und wer sägt ihn an?Während er aber wirklich angesägt
wird, mit anderer Säge und in anderem Holz als der Direktor meint,
lüge ich weiter mit der Unverantwortlichkeit von Kindern, allerdings
unter Zwang. Ich kann die einfachste praktische Aufgabe nur mittels großer
sentimentaler Szenen bewältigen; aber wie schwer das ist! Was für
Lügen, Kunststücke, Zeitaufwand, Reue dafür aufgebracht
werden! Und wenn es mißlingt, kann man nur zustimmen. Ich kann es
aber nicht anders. Wenn ich nach rechts gehen will, gehe ich zunächst
nach links und strebe dann wehmüthig nach rechts (die Wehmut ergibt
sich dann für alle Beteiligte[n] von selbst und ist das Widerlichste).
Der Hauptgrund mag Angst sein: nach links zu gehn muß ich mich nicht
fürchten, denn dorthin will ich ja eigentlich gar nicht. Ein bezeichnendes
Beispiel ist die Kündigung in meiner ersten Stellung gewesen: Ich
kündigte nicht, weil ich eine bessere Stellung hatte, wie es auch
richtig war, sondern weil ich es nicht ertragen konnte, wie ein alter Beamter
ausgeschimpft worden war. - Nun, lassen wir es heute, auch die Sonne fängt
an hervorzukommen.
Herzlichste Grüße Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at