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[Marienbad, 12 bis 14. 7. 1916]

[Briefkopf: Schloß Balmoral und Osborne]


Liebster Max - nicht immer wieder aufschieben und gerade heute ausführlicher antworten, da ich den letzten Abend (oder eigentlich vorletzten, denn morgen begleite ich sie noch nach Franzensbad, um meine Mutter zu besuchen) mit F. beisammen bin.

    Der Vormittag der Bleistiftkarte war (ich schreibe in der Halle, einer wunderbaren Einrichtung sich gegenseitig mit leichten Reizungen zu stören und nervös zu machen) etwa der Abschluß, (aber es gab mehr Übergänge, die ich nicht verstehe) einer Reihe schrecklicher Tage, die in noch schrecklicheren Nächten ausgekocht worden sind. Mir schien wirklich, nun sei die Ratte in ihrem allerletzten Loch. Aber da es nicht mehr schlimmer werden konnte, wurde es nun besser. Die Stricke, mit denen ich zusammengebunden war, wurden wenigstens gelockert, ich fand mich ein wenig zurecht, sie, die in die vollkommenste Leere hinein immerfort die Hände zur Hilfe gestreckt hatte, half wieder und ich kam mit ihr in ein mir bisher unbekanntes Verhältnis von Mensch zu Mensch, das an Wert bis an jenes Verhältnis heranreichte, das in unsern besten Zeiten der Briefschreiber zur Briefschreiberin gehabt hatte. Im Grunde war ich noch niemals mit einer Frau vertraut, wenn ich zwei Fälle ausnehme, jenen in Zuckmantel (aber dort war sie eine Frau und ich ein Junge) und jenen in Riva (aber dort war sie ein halbes Kind und ich ganz und gar verwirrt und nach allen Himmelsrichtungen hin krank). Jetzt aber sah ich den Blick des Vertrauens einer Frau und konnte mich nicht verschließen. Es wird manches aufgerissen, das ich für immer bewahren wollte (es ist nichts einzelnes, sondern ein Ganzes) und aus diesem Riß kommt auch, das weiß ich, genug Unglück für mehr als ein Menschenleben hervor, aber es ist nicht ein heraufbeschworenes, sondern ein auferlegtes. Ich habe kein Recht mich dagegen zu wehren, umsoweniger als ich das, was geschieht, wenn es nicht geschähe selbst mit freiwilliger Hand täte, um nur wieder jenen Blick zu erhalten. Ich kannte sie ja gar nicht, neben andern Bedenken allerdings hinderte mich damals geradezu Furcht vor der Wirklichkeit jener Briefschreiberin; als sie mir im großen Zimmer entgegenkam, um den Verlobungskuß anzunehmen, ging ein Schauder über mich; die Verlobungsexpedition mit meinen Eltern war für mich eine Folterung Schritt für Schritt; vor nichts hatte ich solche Angst wie vor dem Alleinsein mit F. vor der Hochzeit. Jetzt ist es anders und gut. Unser Vertrag ist in Kürze: Kurz nach Kriegsende heiraten, in einem Berliner Vorort zwei, drei Zimmer nehmen, jedem nur die wirtschaftliche Sorge für sich lassen. F. wird weiter arbeiten wie bisher und ich, nun ich, das kann ich noch nicht sagen. Will man sich allerdings das Verhältnis anschaulich darstellen, so ergibt sich der Anblick zweier Zimmer, etwa in Karlshorst, in einem steht F. früh auf, läuft weg und fällt abends müde ins Bett; in dem andern steht ein Kanapee, auf dem ich liege und mich von Milch und Honig nähre. Da liegt und streckt sich dann der unmoralische Mann (nach dem bekannten Ausspruch). Trotzdem - jetzt ist darin Ruhe, Bestimmtheit und damit Lebensmöglichkeit. (Nachträglich angesehn, sind das allerdings starke Worte, kaum dauernd niederzudrücken von einer schwachen Feder.)

    Wolff werde ich vorläufig nicht schreiben, so dringend ist es doch nicht und so dringend macht er es auch nicht. Von übermorgen bin ich allein, dann will ich mich (bis nächsten Montag habe ich Zeit)

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ein wenig revidieren - wollte ich sagen und darüber ist aus Mittwoch Freitag geworden. Ich war mit F. in Franzensbad bei der Mutter und der Valli, jetzt ist F. fort, ich bin allein. Es waren seit dem Tepler Vormittag so schöne und leichte Tage, wie ich nicht mehr geglaubt hätte, sie erleben zu können. Es gab natürlich Verdunklungen dazwischen, aber das Schöne und Leichte hatte die Oberhand, selbst in Gegenwart meiner Mutter, und das ist erst recht außerordentlich, ist so außerordentlich, dass es mich gleichzeitig stark erschreckt. Nun -

    Hier im Hotel hat man mir eine unangenehme Überraschung vorbereitet, durch absichtliche oder unabsichtliche Verwechslung mein Zimmer vermietet und F.'s Zimmer mir gegeben, ein viel unruhigeres, mit Doppelmietern rechts und links, einfacher Tür, ohne Fenster, nur mit Balkon. Aber zum Wohnungsuchen werde ich mich kaum aufraffen. Trotzdem gerade jetzt die Aufzugtüre zuschlägt und ein schwerer Schritt sein Zimmer sucht.

    Zu Wolff: ich schreibe also vorläufig nicht. Es ist auch doch gar nicht so vorteilhaft, zuerst mit einer Sammlung 3er Novellen aufzutreten, von denen zwei schon gedruckt sind. Besser doch ich verhalte mich still, bis ich etwas Neues und Ganzes vorlegen kann. Kann ich es nicht, dann mag ich für immer still bleiben.

    Den Aufsatz im Tagblatt - denke: Geh. Hofrat! - schicke ich in der Beilage, heb ihn mir bitte auf. Sehr freundlich ist er und steigerte diese Freundlichkeit noch dadurch, dass er uns in einem Augenblick zufällig auf den Kaffeehaustisch im "Egerländer" gelegt wurde, als man dachte, nun halten die Schläfen wirklich nicht mehr stand. Es war wahrhaft himmlisches Öl. Dafür hätte ich dem Herrn Hofrat gerne gedankt, werde es vielleicht noch tun.

    Zu Deiner Sammlung, die ich nicht billige, aber verstehe, schicke ich Dir die zwei Bilder. Merkwürdig ist unter anderem, dass beide horchen, der Beobachter auf der Leiter, der Studierende über dem Buch. (Wie trampeln jetzt die Leute vor meiner einfachen Tür! Allerdings, den Studierenden stört das Kind nicht.)

    9.-14. Tausend! Mein Glückwunsch, Max. Die große Welt langt also zu. Besonders in Franzensbad ist Tycho in allen Auslagen. In der Täglichen Rundschau, die ich gestern zufällig las, annonciert ein Buchhändler Gsellius das Buch. Könntest Du mir die Rundschaukritik schicken?.

    Ich wiederhole noch die zwei Bitten: Adresse von Otto und Bilderkaufvermittlung. Habe aber noch eine dritte. Könntest Du einen Prospekt des Jüdischen Volksheims an F. (Technische Werkstätte, Berlin O-27 Markusstraße 52) schicken. Wir haben darüber gesprochen und sie wollte es sehr gerne haben.

    Für Richard und Samuel hast Du immer eine Vorliebe gehabt, ich weiß. Es waren wunderbare Zeiten, warum muß es gute Literatur gewesen sein?

    Was arbeitest Du? Bist Du von Dienstag in einer Woche in Prag? Dieser Brief kann Felix natürlich gezeigt werden, aber Frauen gar nicht. -

Dein Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


in Zuckmantel: Im Sommer 1905 und 1906. Vgl. F 385.


in Riva: Siehe 1913 Anm. 19.


Sammlung 3er Novellen: Es war zwischen Kafka und dem Kurt Wolff Verlag von einem "Novellenband "Strafen" (Urteil - Verwandlung - Straf kolonie)" die Rede gewesen (Br 148).


Aufsatz im Tagblatt ... Hofrat!: Es handelt sich um den Bericht im Prager Tagblatt vom 7. Juli 1916 über eine (vom Hofrat Prof. Dr. Ritter von Jaksch einberufene) Besprechung in Prag, die sich mit der Frage der Fürsorge für heimkehrende lungenkranke Krieger befaßte. Dabei hatte Kafkas Chef, Dr. Marschner, "die tatkräftigste Förderung dieser Bestrebungen seitens der Staatlichen Landeszentrale für heimkehrende Krieger [Abteilung der Arbeiterunfallversicherungsanstalt] in Aussicht" gestellt. Zu Kafkas aktivem Anteil an der Kriegsbeschädigten-Fürsorgearbeit siehe KH 472-477 und vgl. 1918 Anm. 30 und 31.


"Egerländer": Ausflugslokal in der Umgebung von Marienbad.


Deiner Sammlung . . . Bilder: Brod hatte eine Sammlung von Kafkas Zeichnungen angelegt. Vgl. 1910 Anm. 20.


9.-14. Tausend!: Die dritte Auflage (eigentlich 9.-15. Tausend) von Tycho Brahes Weg zu Gott, Leipzig: Kurt Wolff 1916.


Rundschaukritik: Von Otto Pick (1887-1940) in der Neuen Rundschau 27 [1916], S.862-864.


des Jüdischen Volksheims: Das kurz zuvor von Siegfried Lehmann gegründete "Jüdische Volksheim" in Berlin hatte zum Ziel, vor allem durch die Pflege und Erziehung von ostjüdischen Kindern zur Erneuerung des jüdischen Volkstums beizutragen. Kafka versuchte, Felice Bauer zu überreden, sich dort als Helferin zu betätigen (siehe F passim).


Richard und Samuel: Siehe 1911 Anm. 15 und BKR.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at