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[Zwei Postkarten. Stempel: Marienbad, 5. 7. 16]

[An:] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr F. Kafka Marienbad Schloß Balmoral


Lieber Max, also in Marienbad. Hätte ich jeden Tag seit unserem Abschied, der mir für zu lange Zeit zu gelten scheint, geschrieben, es wäre ein unentwirrbares Durcheinander gewesen. Nur die letzten Tage: Glückseligkeit des Abschieds vom Bureau, ausnahmsweise freier Kopf, fast alle Arbeit bewältigt, musterhafte Ordnung zurückgelassen. Wäre es Abschied für immer gewesen, dann wäre ich bereit gewesen, nach 6stündigem Diktieren etwa noch auf den Knien das ganze Treppenhaus zu waschen, vom Boden bis zum Keller und auf diese Art jeder Stufe die Dankbarkeit des Abschieds zu beweisen. Aber am nächsten Tag Kopfschmerzen bis zur Betäubung; Hochzeit des Schwagers, derentwegen ich noch Sonntag vormittag in Prag bleiben mußte; die ganze Ceremonie nichts als Märchennachahmung; die fast gotteslästerliche Trauungsrede: "Wie schön sind deine Zelte, Israel" und noch anderes derartige. Mitgewirkt an der Tageslaune hatte übrigens ein grauenhafter Traum, dessen Merkwürdigkeit darin bestand, dass er nichts Grauenhaftes dargestellt hatte, nur eine gewöhnliche Begegnung mit Bekannten auf der Gasse. An die Einzelheiten erinnere ich mich gar nicht, Du warst glaube ich gar nicht dabei. Das Grauenhafte aber lag in dem Gefühl, das ich einem dieser Bekannten gegenüber hatte. Einen Traum von dieser Art hatte ich vielleicht noch gar nicht gehabt. - Dann in Marienbad sehr lieb von Felice vom Bahnhof abgeholt, trotzdem verzweifelte Nacht in häßlichem Hofzimmer. Übrigens die bekannte erste Verzweiflungsnacht. Montag Übersiedlung in ein außerordentlich schönes Zimmer, wohne jetzt nicht geringer als im "Schloß Balmoral". Und darin werde ich versuchen, den Urlaub zu bewältigen, fange mit der bisher nicht ganz gelungenen Bearbeitung des Kopfschmerzes an. Felice und ich grüßen euch herzlichst

Franz        
 


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at