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[Tagebuch, 25. Dezember 1915; Samstag]

25 XII (1915) Eröffnung des Tagebuches zu dem besondern Zweck, mir Schlaf zu ermöglichen. Sehe aber gerade die zufallige letzte Eintragung und könnte 1000 Eintragungen gleichen Inhalts aus den letzten 3 - 4 Jahren mir vorstellen. Ich verbrauche mich sinnlos, wäre glückselig schreiben zu dürfen, schreibe nicht. Werde die Kopfschmerzen nicht mehr los. Ich habe wirklich mit mir gewüstet. - Gestern offen mit meinem Chef gesprochen, da ich durch den Entschluß zu sprechen und das Gelübde nicht zurückzuweichen 2 Stunden allerdings unruhigen Schlafs in der vorgestrigen Nacht mir ermöglicht habe. 4 Möglichkeiten meinem Chef vorgelegt: 1.) alles weiter belassen, wie in der letzten allerärgsten Marterwoche und mit Nervenfieber, Irrsinn oder sonstwie enden 2.) Urlaub nehmen, will ich nicht aus irgendeinem Pflichtgefühl, es würde aber auch nichts helfen 3.) Kündigen, kann ich jetzt nicht meiner Eltern und der Fabrik wegen 4.) bleibt nur Militärdienst. Antwort: eine Woche Urlaub und Hämatogenkur, die der Chef gemeinsam mit mir machen will. Er selbst ist wahrscheinlich schwer krank. Gienge ich auch, wäre die Abteilung verwaist.

Erleichterung offen gesprochen zu haben. Zum erstenmal mit dem Wort "Kündigung" fast officiell die Luft in der Anstalt erschüttert.

Trotzdem heute kaum geschlafen.

Immer diese hauptsächliche Angst: Wäre ich 1912 weggefahren im Vollbesitz aller Kräfte mit klarem Kopf, nicht zernagt von den Anstrengungen lebendige Kräfte zu unterdrücken!

Mit Langer: Er kann Maxens Buch erst in 13 Tagen lesen. Weihnachten hätte er es lesen können, da man nach einem alten Brauch Weihnachten nicht Tora lesen darf (ein Rabbi zerschnitt an diesem Abend immer das Closetpapier für das ganze Jahr) diesmal aber fiel Weihnachten auf Samstag. In 13 Tagen aber ist russische Weihnacht, da wird er lesen. Mit schöner Litteratur oder sonstigem weltlichen Wissen soll man nach mittelalterlicher Tradition erst vom 70ten Jahr, nach einer mildern Ansicht erst vom 40. Jahr sich beschäftigen. Medicin war die einzige Wissenschaft, mit der man sich beschäftigen durfte. Heute auch mit ihr nicht, da sie jetzt zu sehr mit den andern Wissenschaften verknüpft ist. - Auf dem Kloset darf man nicht an die Tora denken, daher darf man dort weltliche Bücher lesen. Ein sehr frommer Prager, ein gewisser Kornfeld, wußte viel Weltliches, er hat alles auf dem Kloset studiert.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at