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An Felice Bauer

[Stempel: 20. IV. 15]
 


Wie lange ich schon ohne Nachricht bin, Felice! Was geschieht mit Dir? Wenn einem jemand lange nicht antwortet, ist es so, als ob er gegenüber sitzt und schweigt; man ist versucht zu fragen: Woran denkst Du?

Es ist jetzt Zeit, an das vorige Jahr zu denken; woran zu denken übrigens immer Zeit ist. Sie war wunderbar im blauen Kleid, als sie hereinkam, aber der Kuß war nicht rein, nicht rein gegeben, nicht rein genommen. Nicht rein gegeben: denn er hatte kein Recht zu diesem Kuß; dass er sie liebte, gab ihm das Recht noch nicht; dass er sie liebte, hätte ihm diesen Kuß verwehren müssen. Denn wohin wollte er sie nehmen? Wo stand er selbst? Durch die gemeinsame Anstrengung der Eltern (die er, sehr ungerecht natürlich, dafür fast haßte) und einiger anderer war ihm einmal ein Brett unter[ge]schoben worden, auf dem er noch jetzt stand. Und weil dieses Brett stark genug war, zwei zu tragen, - aus dieser trostlos lächerlichen Tatsache zog er das Recht, sie mit zu sich zu nehmen. Aber in Wirklichkeit hatte er keinen Boden unter den Füßen; dass er es bis jetzt zustande gebracht hatte, auf seinem Brett zu balancieren, war kein Verdienst, sondern eine Schändlichkeit. Sag mir also, wohin er sie tragen wollte; es ist unausdenkbar. Er liebte sie eben und war unersättlich. Er liebt sie heute nicht weniger, wenn er auch endlich darüber belehrt worden ist, dass er sie so leicht und einfach nicht bekommen kann, selbst wenn sie zustimmt. Ich verstehe nur nicht, wie sie, ein kluges, klarsehendes Mädchen, belehrt durch Qualen ohne Ende, ich verstehe nicht, wie sie noch immer glauben kann, hier in Prag wäre es möglich und gut. Sie war doch hier, hat nicht alles aber vieles gesehn, hat so viel darüber zu lesen bekommen und glaubt es noch immer. Wie stellt sie es sich vor? Sie hat doch nicht einmal, sondern mehrmals das Richtige zumindest gefühlt, ihre kindlich bösartigen Worte im Askanischen Hof waren doch Beweis genug. - Etwas anderes:

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Könnten wir einander Pfingsten sehn? Ich wäre sehr froh. Wer weiß, ob die Sommerreise, von der Du scheinbar nichts hören willst, nicht schon durch den Wegfall jedes Urlaubs unmöglich wird. Nun will ich aber Pfingsten nach Berlin nicht kommen. Aber überhaupt nach Deutschland zu kommen, macht widerliche Schwierigkeiten. Du weißt, wie lange ich wegen des Passes gebettelt habe und dann kam er doch nicht rechtzeitig. Nachher war ich dann gar nicht mehr dort. Die Beilagen sind dort geblieben, irgendeine Ratte benagt Deine zwei Telegramme, die mir gehören. Das gleiche Spiel wie damals müßte jetzt wieder beginnen. Ein Brief von Dir, ein Nachweis dringender Familienangelegenheiten wäre nötig und wieder dieses lange Warten. Du hast einen Paß. Wolltest Du nach Bodenbach kommen, wir blieben Pfingsten in der Böhmischen Schweiz. Wenn Du allein kommen könntest, wäre es natürlich das beste. Ist das nicht möglich, nimm mit, wen Du willst. Und schreib mir bald darüber.

Herzlichst Franz


Zwei Bücher sind auf dem Weg zu Dir, sie müßten eigentlich schon längst angekommen sein.




aber der Kuß . . . : Vgl. dazu Kafkas Bemerkung über den Verlobungskuß in einem Brief an Max Brod, Briefe (Mitte Juli 1916), S. 139.


bösartigen Worte: Vgl. Tagebücher (23. Juli 1914), S. 407: "...sagt gut Durchdachtes, lange Bewahrtes, Feindseliges."


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at